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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Welt der Symbole ist stets gegenwärtig. Sie führt den Menschen in seinen reinsten Zustand zurück, zu dem Ursprung der Dichtung, der Sprache, der Kultur. Ein solches Wissen beruht nicht auf Vernunft, sondern auf Teilnahme, auf Einfühlung in die Welt und ihre Kräfte.«
    Ich starrte ihn fasziniert an. Auf welchen Wegen, mit Hilfe welcher Kenntnisse und welcher geheimnisvoller Intuition mochte er die Erfahrungen gesammelt haben, an denen er mich teilhaben ließ?
    »Bevor ich dich traf«, sagte ich, »erlebte ich Japan wie hinter einer Glaswand.
    Ich sah und hörte vieles und störte mich oft an der Art, wie die Dinge ausgelegt wurden. Ich empfand das alles nicht so, wie die anderen es mich glauben machen wollten.«
    Sein Lächeln kam und ging, als ob er diese Bemerkung schon oft gehört hätte.
    »Zum Beispiel?«
    »Nun, man sagte mir, daß japanische Männer ihre Frauen diskriminierten, daß sie – wenn sie von ihr sprachen – ihren Vornamen nicht erwähnten und sie lediglich als ›Innere des Hauses‹ bezeichneten.«
    Er zog spöttisch die Mundwinkel nach oben.
    »Wer hat dir das gesagt? Nein, laß nur, ich kann es mir schon denken. Tja, das stimmt sogar.«
    Ich hob ruckartig den Kopf.
    »Ist das wahr?«
    »Absolut!« Mein Unverständnis belustigte ihn. »Aber hat man dir auch gesagt, warum? Nein? Natürlich nicht!« Er kaute gelassen weiter. »Als ich jünger war, habe ich mir große Mühe gegeben, den Leuten solche Dinge zu erklären.
    Allmählich habe ich die Nase voll. Wer nicht verstehen will, versteht nicht. Aber da hattest du eine gute Gelegenheit, die Gegenseite zu erforschen, bevor du… nun, sagen wir mal, die japanische Eigenart hautnah erleben konntest.«
    Er lachte, und ich lachte auch.
    »Hautnah ist schon der richtige Ausdruck.«
    »Eben.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Also, hör zu. Bis zum 11. Jahrhundert und in geringerem Maße bis zum 16. Jahrhundert war es bei uns Sitte, daß die verheiratete Frau höheren Standes in ihrem eigenen Haus wohnen blieb. Die Ehe 307
    wurde geschlossen durch den formellen Empfang des Gatten im Haus der Gattin und durch seinen täglichen Besuch bei ihr. Wollte sie ihn nicht sehen, ließ sie ihn vor der Tür stehen. Es gibt zahlreiche Bühnenstücke und sogar ein Nô-Spiel über schöne Frauen, die ihre Angetrauten oder Verehrer auf diese Weise plagten.
    Berühmt ist die Dichterin Ono no Komachi, die ihrem Liebhaber, dem General Fukakusa, befahl, 100 Nächte vor ihrem Haus zu warten. In der 99. Nacht erfror der arme Mann in einem Schneesturm. Die Erinnerung an diese Zeiten lebt weiter in dem Wort Omoya – Mutterhaus. Denn es war stets die Mutter, die den Neugeborenen ihren Namen gab und die Kinder erzog. Der Ausdruck ›Eltern‹ –
    der zugleich auch ›Ahne‹ bedeutete – bezog sich nur auf die Mutter. Diese symbolisiert also die Abstammung.«
    Er drückte sein Gesicht an meinen Nacken.
    »In unserer Tradition ist das Heim der geheiligte Raum der Frau, das Zentrum der Familie. Wenn ich von dir als ›Innere des Hauses‹ spreche, sehe ich in dir den Kern des Mutterhauses Omoya. Du bist für mich die Beschützerin des Heims, die große Angel, um die alle Tore des Lebens sich drehen, der Spiegel des Grundes, in dem alles widerscheint. Kommst du dir dabei diskriminiert vor, Liebes?«
    Wir saßen eng umschlungen. Ich sagte:
    »Das habe ich alles nicht gewußt.«
    »Kein Wunder«, entgegnete er heiter, »wenn man dir nur Blödsinn auftischte!
    Westliche Menschen pflegen eine Kultur des objektiven Geistes. Sie haben Sinn für feste Formen und können mit der Welt der Erscheinungen nicht viel anfangen.
    Bei uns lautet ein Gedicht:
    ›Der Mond hat nicht die Absicht, sein Bild irgendwohin zu werfen, Noch hegt der Teich den Wunsch, den Mond zu Gast zu haben.‹
    Mit anderen Worten: Jede Spur von künstlichem Bestreben wird verworfen, die Natur wirkt sich selbst ganz unberührt aus. Die japanische Kultur ist eine Kultur des inneren Weges. Unsere Geisteswelt verschließt sich der westlichen Logik. Das ist nicht Willkür, sondern Gleichgültigkeit. Sie gleiten an uns ab, die Ressentiments, die uns so viel Mißgunst und Unverständnis einbringen. Da vermag nur die Liebe eine Brücke zu schlagen, die Nebel zu lösen, dem Verstehen Raum zu geben. Dann wird alles gut, dann gibt es kein Geheimnis mehr, keinen Argwohn, keinen Verlust.« Er hielt inne, verzog höhnisch die Lippen. »Aber viele Gaijins wissen das natürlich besser. Sie haben sehr genaue Vorstellungen davon,

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