Silbermuschel
wie ich mich als Japaner zu benehmen, wie ich zu sprechen und zu philosophieren habe.«
»Willst du nicht mal ein Buch darüber schreiben?«
»Lieber nicht!« erwiderte er, gemächlich kauend. »Kritiker im In- und Ausland würden es als sarkastisch und sehr unjapanisch ansehen, weil ich die Neigung 308
habe, Konventionen zu entlarven, meine Worte nicht zurechtzufeilen. Meine Gedanken lassen sich nicht zähmen, ich sehe die Menschen nur als das an, was sie sind – was mich respektlos macht.«
»Du bist zu frei und zu unverblendet, trotz deiner Liebe zu Japan, um irgendein falsches Image zu verbreiten.«
»Was ist schon ein Image? Alles wandelt sich, und Gegensätze sind nur verschiedene Aspekte einer Sache. Na egal. Vielleicht bin ich zu faul, oder es fehlt mir ganz einfach die Geduld. Schreib du an meiner Stelle, und es wird ein gutes Buch werden.«
»Du machst dich lustig über mich.«
»Das würde mir nicht im Traum einfallen.«
Er küßte mich auf die Wange, wie ein kleiner Junge.
»Schreib, wie wir uns gefunden haben, wie wir nach uns selbst forschen, uns fühlen, uns ineinander verlieren. Schreib über die Liebe, die wie ein Irrlicht in der Dunkelheit flackert. Schreib über die Welt, die wir uns aufbauen.«
Ich schwieg. Er warf mir einen funkelnden Blick zu und lachte. »Gomen! –
Entschuldige, ich bin ein Schwätzer! Und du bist genau die richtige Frau für mich, weil du zuhörst. Jede andere würde mir sagen, ich solle den Mund halten.«
»Nein.«
»Wieso nein?«
»Ich könnte dir stundenlang zuhören.«
»Doch nur, weil du Geduld mit mir hast.«
»Nein, weil ich dich liebe.«
Wir starrten uns an im gleißenden Sonnenlicht.
»Du liebst mich?« Er sagte es mit rauher Stimme, fast scheu.
Die Gegend wurde immer wilder, zerklüfteter, obwohl die Berge nie sehr hoch wurden. Manchmal schäumte ein grüner Wildbach zwischen den Felsschluchten hindurch. Entlang den Höhenzügen wuchsen Kiefern, und an den Hängen ragten ihre Wurzeln wie steifgewordene Schlangen aus dem Boden. Die Luft roch nach Holzkohle, Gras und Brombeeren. Nach einer schmalen Paßhöhe senkte sich die Straße, zog eine lange Schleife ins Tal. Die Kleinstadt Nikko befand sich inmitten dichter Laubwälder. Sie schien auf den ersten Blick nur aus einer Hauptstraße mit zahlreichen Restaurants, Cafés und Souvenirläden zu bestehen. Wir parkten das Motorrad, schlürften eine heiße Nudelsuppe in einer Imbißbude und machten uns dann auf den Weg zum Tempelgelände. Vom Omote-Sandô, dem Hauptzugang, war zuerst nur das Waldgelände zu sehen. Es wirkte wie ein verwunschenes Gehege, dicht wie Gewölk, smaragdgrün und von geheimnisvoll murmelnden Geräuschen erfüllt. Ein Torbogen aus Granit führte in den heiligen Bezirk. Obwohl eine dichte Besuchermenge den Weg verstopfte, so daß wir nur langsam vorwärts kamen, empfand ich die Menschen nicht als zudringlich. Sie störten mich nicht; ich nahm sie kaum wahr. Geduldig warteten wir vor dem Brunnentrog, um die 309
vorgeschriebenen Waschungen vorzunehmen. Als wir an die Reihe kamen, ergriff Ken den Schöpflöffel aus Bambus, füllte ihn und goß ihn über meine Hände. Ich nahm ihm behutsam den Löffel aus der Hand und wiederholte für ihn die rituelle Handlung. Mit dem Schöpflöffel, den wir in das Wasser tauchten, mit dem gegenseitigen Benetzen der Hände erlagen wir einem geheimnisvollen Zauber des Gleichwerdens. Es war, als würde uns eine wunderbare Frische durchdringen. Ich sah mich als junge Frau und als Kind neben seiner Gestalt, so wie sie jetzt vor mir stand. Und als ich meine Hand in die seine legte, konnte ich ihn nicht ansehen, ohne daß mir die Tränen kamen. Seine Finger waren kühl vom frischen Wasser, und ich preßte sie stumm an mein Gesicht.
Der Weg zu den Tempeln führte durch das Niômon-Tor mit seinen gewaltigen Statuen der Dewa-Könige. Wir kamen an Lagerhäusern vorbei, die mit holzgeschnitzten Reliefs von Elefanten, Affen, Lotosblumen und Wolkengebilden geschmückt waren.
»Hier vereinigen sich Einflüsse verschiedener Glaubensformen«, erläuterte mir Ken. »Zuerst unsere Ur-Religion, der ›Weg der Götter‹, die Brücke zur unsichtbaren Welt. Dann das taoistische Denken mit seinem kosmischen Wissen, der Konfuzianismus und seine ethischen Ideale und schließlich der Buddhismus, der im 6. Jahrhundert über China Japan erreichte, mit seinem rationalen Gedankensystem und der Vielfältigkeit seiner Symbole. Das Ganze ist sehr barock und reflektiert eine
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