Silbermuschel
begründet die Hierarchie des Patriarchats, die Unterdrückung der Frau, die Ausbeutung der Natur. Doch die Natur rächt sich und stirbt, die Meere verwandeln sich in Trümmerhaufen, die Wälder in totes Land und die Winde in den Gifthauch der Verwesung. Unsere Existenz ist Erstarrung, Verödung, Versteinerung. Wie verlorene Kinder irren wir unter der kalten Sonne des Todes, durch verkohlte Ruinen und geschmolzenes Glas, am Morgen vom Himmel gefallen. Wie lange noch? Wohin führt das? Irgendwann muß dieser Wahnsinn doch aufhören. Möge unser Geist die Zeichen der Zukunft erblicken.«
Ganz plötzlich schwieg er. Die Ruhe und Festigkeit seiner Gesichtszüge blieb unverändert, aber sein Blick war in die Ferne gerichtet, und ich merkte, daß er keine Antwort erwartete.
Wortlos schob ich meinen Arm unter den seinen. Wir verließen den Tempel, fanden unsere Schuhe, wo wir sie gelassen hatten. Wir stiegen die Treppe hinunter, betraten durch Riesentore andere Gebetshallen, an deren Dachbalken Bilder von chinesischen Fürsten, Weisen und Gottheiten geschnitzt waren, alle in herrlichen Farben, Türkisblau, Jadegrün, Zinnober und Magenta, flankiert von Drachenköpfen und löwenähnlichen Wachhunden, die die Tempel vor bösen Geistern schützten.
»Jede dargestellte Figur ist ein Symbol«, erklärte mir Ken. »Alle Darstellungen haben eine rituelle Bedeutung und Bestimmung. Aber ich persönlich vermag mit dieser Vielfalt wenig anzufangen. Der Geist, von Prunk und Gold abgelenkt, kann sich nicht auf das Wesentliche konzentrieren, auf die Mana, die Stärke der Erdkraft, das wahrhaft Heilige. Ich verstehe diese Symbole, aber mein Herz bleibt ungerührt.«
Wir kamen einen langen Stufenweg hinauf zu dem Gokuden-Schrein, der Ieyasu Tokugawa, dem Begründer des Tokugawa-Shogunats, gewidmet war.
Hinter einem rotlackierten Holzgang öffnete sich ein Portal mit der buntbemalten Reliefschnitzerei einer schlafenden Katze.
»Das Bild ist sehr berühmt«, sagte Ken. »Der Name des Künstlers, Hidari Jingoro – hidari bedeutet links –, weist darauf hin, daß er Linkshänder war. In Japan gilt die Katze als Symbol des Wohlstands. Nemurineko, die schlafende Katze, stellt die Entsagung dar. Wobei«, setzte er grinsend hinzu, »die Entsagung hier wohl richtig am Platz ist!«
Weitere Steinstufen führten einen mit Zedern bewachsenen Hügel hinauf. Wir begannen den Aufstieg. Es war ruhig und angenehm kühl unter den hohen Bäumen; eine friedliche Welt, eingebettet und geborgen in smaragdgrünem Helldunkel. Der Weg war lang und steil. Wir gingen langsam, blieben manchmal stehen, um Atem zu schöpfen. Es dauerte eine ganze Zeit, bis wir endlich oben standen, noch immer im Schatten der Bäume. Das Grab des Shoguns befand sich unter einer schlichten bronzenen Pagode. Durch die Zweige schweiften unsere 312
Augen über das Tal, im Mittagsdunst flirrend. Das Brausen des Verkehrs klang gedämpft zu uns hinauf. Auf dem Hügel war alles still; nur die Vögel zwitscherten in den Bäumen. Wir sahen uns an, lachend und durchgeschwitzt, setzten uns auf die Steinstufen wie Halbwüchsige. Ich lehnte den Kopf an Kens Knie, atmete tief die würzige Luft ein. Es roch nach Laub, nach feuchtem Moos. Eine Weile saßen wir schweigend da. Die duftgetränkte Luft schwappte in trägen, kühlenden Wellen um uns herum. Nach einer Weile sagte Ken:
»Ieyasu Tokugawa regierte zu jener Zeit, als in Europa der Dreißigjährige Krieg tobte. Er formte Japan zu einem einheitlichen Staat und kam zu der Erkenntnis, daß ausländische Einflüsse schädlich für sein Land sein würden. Er mißtraute – nicht zu Unrecht – den kolonialistischen Absichten des Westens.
Deshalb schlug er die Tore Japans zu, ließ alle größeren Schiffe verbrennen und drohte jedem mit der Todesstrafe, der den Versuch wagte, den Archipel zu verlassen. Ieyasu war zweifellos ein schlauer Reichsverwalter, dazu jedoch ein notorisch gefürchteter Bösewicht. Das Volk, das ihn nicht mochte, hatte ihm den Spitznamen ›Väterchen Dachs‹ gegeben.«
Ken strich mit den Fingern durch mein Haar; ich hörte ihn leise lachen.
»Gewiß fragst du dich jetzt, warum ich dich zweihundert Steinstufen hochsteigen ließ, um das Grab eines Despoten zu besichtigen!«
Ich lehnte mich zurück und lächelte ihn an.
»Ja, warum eigentlich?«
»Ich hatte dir versprochen, dir etwas über meine Familie zu erzählen. Hier ist der beste Ort dazu. Als der Tokugawa-Clan an der Macht war, wurde jeder Staatsbürger dazu
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