Silbermuschel
Epoche, in der eine höfische Kultur die Bauart der Heiligtümer geprägt hat.«
Die Torflügel eines Holzgebäudes standen weit offen; in einem dunklen Raum schimmerte die marmorne Statue eines Pferdes. Doch als wir näher traten, sah ich, daß es ein lebendes Tier war. Die runden Flanken bebten unter seinen Atemzügen, es spitzte ganz leicht die Ohren.
»Pferde sind Seelenführer«, sagte Ken, »Vermittler zwischen Diesseits und Jenseits. Hi-Uma, der ›Feuerhengst‹, ist Gefährte der Priester und Seher. Bei Schreinfesten trägt er das Kind, das als Medium gewählt wurde, um die Gottheit zu verkörpern. Man führt es durch die Stadt und rund um die Felder. Das Heilige Pferd ist immer ein Schimmel, Sinnbild für Wohlstand und Glück. Der Rappe gilt als Symbol der Fruchtbarkeit und des Todes. In Europa ist es doch auch so, nicht wahr?«
Die Augen des Hengstes leuchteten aus der Dämmerung wie die einer einsamen Gottheit hervor. Der große Kopf war hoch erhoben. Seine Mähne ringelte sich in dichten Wellen über seinen Hals. In den schwarzen, glänzenden Augen schimmerten bunte Schatten.
»Wie ruhig dieses Pferd ist! « sagte ich.
»Es ist der Sonne geweiht«, erwiderte Ken. »Nur die Priester gehen mit ihm um, und die kennen die alten Geheimnisse.«
Da knirschten Schritte im Kies. Eine Frau und zwei kleine Jungen drängten sich 310
vor das Tor. Die Kinder sprangen hoch, um besser zu sehen und das Pferd zu streicheln. Ohne Hast wandte das Tier den Kopf ab, sah sie von der Seite an. Die Frau sagte ein paar Worte zu den Jungen, und beide traten zurück.
Sie gingen, und der Schimmel drehte wieder den Kopf zu uns hin. Seine Pupillen sahen durch uns hindurch. Nichts Wildes, nichts Drohendes war an diesem Tier. Es besaß die Weisheit gotterfüllter Geschöpfe und kannte eine Wahrheit, die nicht von dieser Welt war.
Wir wanderten weiter. Um uns herum wimmelte es von Menschen. Altere Leute, manche im Kimono, zogen in geschlossener Formation hinter der Reiseleiterin her, die eine kleine Fahne oder einen Regenschirm schwungvoll in die Höhe reckte. Besucherschwärme keuchten die steilen Steintreppen hinauf, fotografierten sich gegenseitig vor den Schreinen und Tempeln. Der ganze Bezirk zog sich am Waldrand hin, eine Anhäufung von großen und kleineren Gebäuden, alle aus erlesenen Hölzern, lackiert, vergoldet, mit Schnitzwerk überladen. Wir folgten dem Strom der Besucher in den Rinnoji-Tempel, zogen unsere Schuhe aus, um die Sambutsudo, die ›Halle der drei Buddhas‹, zu betreten. Wir wanderten im bläulichen Weihrauchnebel, vorbei an pfeilergetragenen Alkoven, an prunkvollen Altartischen. Die fünf Meter hohen Statuen aus vergoldetem Holz verkörperten die Gottheit Kannon mit ihren elf Gesichtern und ihren tausend Armen der Barmherzigkeit, Amida-Nyorai, den Sonnenbuddha, und schließlich Bato-Kannon, die Verkörperung der Tierseele.
»Denn auch die Tiere«, sagte Ken, »haben Teil an Buddhas Barmherzigkeit.«
Die Luft war stickig. Wir traten hinaus, lehnten uns an das zinnoberrote Geländer. Ken schwieg und schaute über die Wälder hinweg. Die Sonne beschien ihn, strahlte ohne Hitze, gelassen. Ich folgte seinem Blick und sah einige große Königskrähen, die mit kräftigem Flügelschlag über die Bäume schwebten. Ihr Flug war ein Gleiten und Fallen, ganz im Einklang mit den Windströmungen. Ken betrachtete ihr ständiges Kreisen, als ob er eine Schönheit darin erkannte, die nur er sah. Nach einer Weile seufzte er kurz auf.
»Oft kommt mir unsere Entwicklung wie ein Gang durch die Nacht vor. Wir suchen das verlorene Paradies und verirren uns immer tiefer im Gestrüpp. Allzu lange haben wir nichtmenschliches Leben mit einem Blick betrachtet, der den anderen Wesen Empfindungen, Phantasie, Bewußtsein abspricht. Was empfinden wohl diese Krähen, wenn sie am Himmel dahinziehen, den Luftstrom durch die offenen Flügel spüren, wenn sie gleiten und hinabtauchen und sich wieder hinaufschwingen?«
Er drehte den Kopf und hielt meinen Blick einen Augenblick fest, doch ich hatte das Gefühl, daß er mich nicht richtig wahrnahm. Er folgte einem Faden seiner Erinnerung.
»In früheren Zeiten liebten die Menschen die Bäume, die Berge, die Gräser, alle Lebewesen. Die heiligen Mächte waren die Kräfte der Natur: Wind, Wasser, 311
Feuer, Blitz. Im Buddhismus lebt noch der alte Glaube, daß alle Lebensformen beseelt sind. Der Gedanke, daß ein Gott nur die Menschen begnadet, ist pervers und widernatürlich; er
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