Silbermuschel
erzogen, sich selbst und das Dasein tierisch ernst zu nehmen, was uns Japanern überhaupt nicht lag. Das konfuzianische Weltbild, das wir von China übernommen hatten, förderte weder Humor noch Toleranz. Man schätzte keine Querulanten, aber meine Familie war ein Fall für sich. Seit mehreren Generationen waren meine Vorfahren mütterlicherseits Schwertschmiede und Verwalter der Erzminen. Das Amt übertrug sich vom Vater auf den ältesten Sohn.
Und da die Erzminen mit der Herstellung und dem Gebrauch der Waffen – also der Macht – zusammenhingen, hatte meine Familie innerhalb des herrschenden Clans eine wichtige Stellung.
So kam es, daß einer meiner Vorfahren, der Schwertmeister Genjiro Kumano, im Dienst des Ieyasu Tokugawa stand. Das Ansehen, daß die Familien der großen Schwertmeister genossen, ließ sich mit der Verehrung gegenüber der Priesterkaste vergleichen. Man erzählt sich, daß sogar Jimmu Tenno – einer der frühen japanischen Kaiser – einem Geschlecht der Schmiede entstammte. Selbst Despoten wie Ieyasu hüteten sich, den ›Herrn der Minen‹ zu erzürnen. Das hätte ihm wenig Glück gebracht.«
»Warum?« fragte ich.
»Nun, die Schmiede standen mit den Erdmächten in Verbindung. Der 313
Überlieferung nach wächst das Erz im Schoß der Erde wie der Embryo im Mutterleib. Das männliche Erz auf der Erdoberfläche ist schwarz wie Lava, während das weibliche Erz rot wie Zinnober in verborgenen Tiefen reift. Um ein vollendetes Schwert zu formen, müssen beide Erze, das männliche und das weibliche, im Schmelzofen vermählt werden. Man glaubte, daß im irdenen Mutterschoß die Metalle beseelt waren, daß sie Lust und Schmerzen empfanden wie alle Lebewesen. Menschen, die mit diesen Mächten in Verbindung standen, galten als Zauberer. Der ›Herr der Minen‹ war gleichsam auch der Meister der Schwertschmiede. Das Schwert bedeutet die Kraft und Unmittelbarkeit religiöser Intuition, aber ursprünglich war es kein Sinnbild, sondern ein Gegenstand, der magische Kräfte besaß. Bevor der Schwertschmied ein Schwert anfertigte, rief er Kanayama-Hiko, den Gott der Erzberge, an. Um ihn in die Werkstatt einzuladen, umschloß der Schmied diese mit einem geweihten Seil und verhinderte damit das Eindringen böser Geister. Dann vollzog der Schmied an sich selbst die Reinigungsriten und legte die weiße Zeremonialkleidung an, in der er seine Arbeit verrichtete. Während die Eisenbarren gehämmert und mit Feuer und Wasser geläutert wurden, befanden sich der Schmied und seine Gehilfen in Verbindung mit dem Gott; in höchster innerer Spannung strengten sie sich an bis zu den äußersten Grenzen ihrer Seelen, Körper und Geisteskräfte. Ein Schwert, das so geschaffen wurde, war ein Meisterwerk und spiegelte etwas vom Wesen seines Schöpfers wider. Ein so geschaffenes Schwert war kein Werkzeug des Tötens, sondern ein heiliger Gegenstand. Es vernichtete nicht den Menschen, sondern die finsteren Mächte in ihm, die sich dem Frieden, dem Recht, dem Fortschritt und der Barmherzigkeit entgegenstellten. Es vertrat jene göttlich begeisternde Kraft, die für das geistige Wohl auf Erden wirkt. Es verkörperte das Leben, nicht den Tod.«
Ich hörte zu, atmete die Geräusche des Waldes ein, während das Sonnenlicht durch das Laub funkelte. Meine Wange lag auf Kens langen, schlanken Oberschenkeln. Ich fühlte die Straffheit seiner Muskeln unter dem rauhen Jeansstoff, genoß das Gleichgewicht des schwebenden Augenblicks, das lustvolle Entzücken des Lebendigseins, nahe an diesem Grab. Eine Spur Ewigkeit, flüchtig und vollkommen. Nein, es war kein Zufall, daß Ken mich hierhin geführt hatte.
Wie stets verfolgte er ein Ziel. Er hatte längst begonnen, von sich selbst zu sprechen, auch wenn ich den Zusammenhang noch nicht erkannte.
Während er schwieg, summte eine Biene an meinem Gesicht vorbei und ließ sich auf einem Zweig nieder. Ich beobachtete das zarte Gewebe der schwirrenden Flügel, die Bewegung der winzigen Beine und dachte, dieser Augenblick wird mir stets in Erinnerung bleiben.
»Solche Dinge«, sagte Ken, »wußte damals jeder Schwertmeister; er bemühte sich, bei der Anfertigung des Schwertes nur erhabene und friedvolle Gedanken in sich wirken zu lassen. Natürlich gab es Schmiede, die es nicht so genau nahmen.
Dann konnte das Schwert nichts anderes als Zerstörung bezwecken, dann war es 314
einfach ein Sinnbild der Kraft, zuweilen einer dämonischen Kraft. Deswegen sorgte mein Vorfahre Genjiro stets
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