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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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letzter goldener Schein. Plötzlich holte er tief Atem.
    »Ich muß dir etwas erzählen«, begann er. »Vor ein paar Jahren, nach einem Gastspiel in Nikko, verlängerten wir unseren Aufenthalt, um die Onsen – die Thermalbäder – zu benutzen. Eines Nachmittags hatte ich plötzlich das Bedürfnis, allein zu sein, und fuhr mit dem Motorrad los. Es war bereits Spätherbst. Die Sonne schien klein und weiß, und der erste Schnee lag schon auf den Hängen.
    Goldgelb standen die Zedern gegen den glasklaren Himmel. Aus irgendeinem Grund bog ich von der Straße ab, fuhr diesen Weg entlang. Unweit von hier ließ ich das Motorrad stehen, ging zu Fuß weiter. Im Wald hatten Holzfäller ein Feuer angezündet, und der Geruch nach Holzkohle erfüllte die Luft. Alles war still. Noch immer war Licht auf den Höhen, und ich schaute zu, wie die Schatten der Wälder über den See wanderten. Ein Raubvogel schwebte hoch über den Bäumen, sonst regte sich nichts. In der Weite war kein menschliches Geschöpf zu erblicken; nur das kalte Licht und große blaue Räume, die sich in die Ferne dehnten, Berge und See. Ich wanderte auf dem Pfad längs des Ufers. So still war es hier, daß man eine Eichel fallen hören konnte. Sogar das Knacken eines Zweiges wirkte laut. Es war eiskalt, und der Boden roch modrig. Allmählich überwältigte der Ort meine Seele.
    Ich wurde von einem Gefühl der Wehmut und Sehnsucht ergriffen. Ich hätte weinen mögen…«
    Ich hörte auf, mit seiner Hand zu spielen. Der Abendwind brachte Feuchtigkeit; ich merkte, wie meine Poren sich fröstelnd zusammenzogen. Er legte den Arm um meine Schultern und fuhr fort:
    »Als ich nun über den See blickte – genau an dieser Stelle –, da war mir, als ob die Felsen unter dem Wasser sich bewegten. Sie schienen in die Höhe zu wachsen 319
    und gaben eine Öffnung frei. Der See lag still und tief, und auf dem Grund erblickte ich plötzlich die Gestalten meiner Eltern. Ich sah meine Mutter, gekleidet in ihr schwarzes Gewand. Ihr Haar war zu einem schönen Knoten geschlungen. Sie trug die Türkiskette, die sie aus Paris mitgebracht hatte, und ihre goldene Uhr, die ich jetzt trage. Sie hielt die Hände auf den Knien gefaltet und lächelte mir zu.
    Neben ihr sah ich meinen Vater. Ich wußte, daß er es war, obwohl ich ihn nicht mehr in Erinnerung hatte und ihn nur von einem Foto her kannte. Ich wunderte mich, daß er so jung und glücklich aussah. Während ich sie beide betrachtete, hatte ich plötzlich das absurde Bedürfnis, zu ihnen in den See hineinzuspringen, an dem ewigen Kreislauf von Leben und Tod teilzunehmen. So trat ich ganz nahe an das Wasser heran, und ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn nicht Isamis Hand mich zurückgehalten hätte. Unvermittelt roch ich ihren Duft nach Maiglöckchen, spürte ihren Atemhauch, die flüchtige Berührung ihres Ärmels. Erschauernd wandte ich mich um; doch da war nichts als ein Zweig, der meinen Arm streifte.
    Das brachte mich wieder zur Vernunft. Als ich erneut in das Wasser blickte, sah ich nur noch Schatten.«
    Er verstummte so plötzlich, daß ich das leichte Sprühen der Wellen hörte, die im Sand versickerten. Ich saß ganz still, den Kragen der Lederjacke hochgeschlagen, und lehnte mich an seinen Arm. Die Sonne funkelte rot wie Rubin.
    »Vielleicht sind wir Japaner etwas sonderbar. Wir reden wenig von unserer Familie, und doch glaube ich, daß es kaum Menschen gibt, die mehr an ihr hängen als wir. Meine Eltern sind schon lange gestorben, meine Schwester auch. Und trotzdem versuche ich sie mir immer wieder vor Augen zu rufen; sie leben tief in meiner Seele. Und manchmal, wenn ich ganz stark an sie denke, erwachen sie zu neuem Leben. Anders als die Unbefangenheit der Jugend, deren Kraft der Mittagssonne gleicht, ist diese beharrliche Erinnerung ein Ereignis zwischen Dämmerung und Tod. Selbst der Gedanke daran läßt mein Herz schneller schlagen.
    Dann ist es, als ob die Toten in mir zu sprechen begännen…«
    Er stockte ganz plötzlich, als ob ihm die Stimme versagte. Ich sagte immer noch nichts, sondern küßte nur seine Hand und legte sie an meine Wange. Ich fühlte, wie diese Hand leicht zitterte.
    Über die kleinen Wellen wehte Dunst. Für kurze Zeit flackerte die Sonne dicht über den Bergrand; der Himmel glühte dunkelrot auf, wie eine Flamme, die hochschlägt und erlischt. Schon kam die Dämmerung mit schwarzblauen Wolkenbergen; Berge und See nahmen die Farbe von Asche an. Ein Windstoß wehte durch das Laub; das

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