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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Unterholz knisterte, und eine kalte Luftschicht legte sich auf unsere Haut.
    Ken fand plötzlich aus seiner Verzückung heraus. Er straffte sich und preßte meine Hand. Vielleicht sah er mich an, doch es war schon zu dunkel, ich konnte den Schmerz nicht sehen, der auf seinem Gesicht zurückblieb. Und als er wieder 320
    sprach, klang seine Stimme nicht anders als sonst.
    »Du frierst ja, und du bist müde. Komm, laß uns ein Hotel suchen. Wir werden hier übernachten.«
    Ich hielt mich an seiner kräftigen Schulter fest, während wir die Böschung hochkletterten und er dabei die Zweige von meinem Gesicht fernhielt. Auf dem Weg war es bereits stockfinster. Die Fläche des Sees leuchtete im Nachtglanz zwischen den Bäumen, und über den Bergen schimmerten die ersten Sterne.
    Schulter an Schulter gingen wir weiter. Ken führte mich mit warmem, festem Griff. Hier oben wehte kein Lüftchen. Nur unsere Atemzüge und das leise Geräusch unserer Schritte waren in der Stille zu hören. Auf einmal hielt ich an, und er blieb ebenfalls stehen. Meine Zähne schlugen aufeinander, aber nicht nur vor Kälte.
    »Ken?« fragte ich.
    »Ja, Liebes?«
    Er wirkte noch größer im Dunkeln, und ich fühlte die Wärme seines Körpers zu mir hinüberstrahlen. Sein Gesicht lag völlig im Schatten, ich sah nur den glänzenden Spalt seiner Augen.
    »Wie sind deine Eltern eigentlich gestorben?«
    Er schwieg; doch nur einen Atemzug lang. Dann antwortete er in ruhigem, gleichmäßigem Ton:
    »Mein Vater kam in Hiroshima ums Leben, zwei Tage nach dem Abwurf der Bombe. Meine Mutter starb sechs Jahre später, an den Folgen der Strahlenkrankheit. Isami hat mich großgezogen. Sie starb vor fünfzehn Jahren, an Knochenkrebs.«
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21. KAPITEL
    D er Gasthof war ein altes Landhaus, wie es viele in dieser Gegend gab, anspruchslos und bequem. Ken hatte ihn ausgesucht, weil er wußte, daß ich solche Herbergen mochte. Einige polierte Treppenstufen führten zu einem Zimmer, das zwar klein war, aber durch seine Schlichtheit den Eindruck eines größeren Raumes gab. Schiebetüren aus Holz und Reispapier bildeten die Außenwand und öffneten sich zu einem Garten hin. Das Licht einer Stehlampe zauberte einen goldenen Glanz auf die Tatami-Matten. Sie sahen schon abgenutzt aus, der Brokatrand war verblichen, aber sie hatten immer noch ihren natürlichen Duft nach Gräsern und fühlten sich unter den Füßen weich und elastisch an.
    Das Zimmer enthielt einen dunkelroten Lacktisch, matt glänzend und sehr schön. In einer Ecke stand eine Frisierkommode, klein wie ein Kästchen, mit einem ovalen Spiegel. Die Futons waren noch im Wandschrank untergebracht. Im winzigen Badezimmer kam der verrostete Wasserhahn direkt aus der Wand heraus.
    »Ein bißchen altmodisch«, meinte Ken.
    Ich schüttelte lächelnd den Kopf.
    »Das gefällt mir.«
    Ein rotwangiges Zimmermädchen, pummelig und herzlich, brachte uns feuchtheiße Handtücher und eine Thermosflasche mit grünem Tee. Sie fragte, wann wir essen wollten. Ich sagte leise: »Später! « Hunger verspürte ich keinen.
    Das Mädchen verzog sich mit einer Verbeugung, während wir eng nebeneinander auf den Kissen saßen und Tee tranken. Die Schiebewand war nur halb zugezogen.
    Die Nachtluft duftete nach Wasser und Erde. Der Garten mit seinen Büschen und Ziersträuchern war wie ein Schattenreich, seltsam beseelt. Im fahlen Lichtschein, der aus unserem Zimmer fiel, glitzerte ein Wasserbecken. Hier und da war ein leichtes Plätschern zu hören.
    »Was ist das?« fragte ich Ken.
    »Ach, das sind die Zierkarpfen. Du wirst sie morgen sehen. Manche lassen sich sogar streicheln.«
    Ich legte den Kopf an seine Schulter.
    »Wie friedlich hier alles ist!«
    Er nickte und zitierte lächelnd:
    »Den Wolken gleich treiben wir durch Geburten und Tod.
    Den Pfad des Unwissens und den Pfad der Erleuchtung –
    Wir wandeln sie träumend.
    In meinem Gedächtnis haftet nur eins, auch nach dem Erwachen: des Regens Rauschen, dem einst des Nachts in der Hütte ich lauschte.«
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    »Wie schön du das gesagt hast! Von wem stammt dieses Gedicht?«
    »Von Dogen, einem buddhistischen Philosophen, der vor achthundert Jahren lebte. Ich liebe seine Gedichte vom Alleinsein, von der Nähe der Natur. Auf Sado gehe ich oft durch die Wälder, wenn es regnet. Das Plätschern der Tropfen mischt sich in das Rauschen der Brandung und klingt wie Musik.«
    »Wie kannst du nur so ruhig sein«, meinte ich, »nach dem, was du mir erzählt hast?«
    »Ich habe dir ja noch

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