Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
kaum etwas erzählt. Und ich bin auch nicht ruhig, ich bin sogar ziemlich nervös. Ich muß dir einiges sagen und suche mit Mühe den Anfang.
    Würde es dir wirklich nichts ausmachen, ein paar schlimme Dinge zu hören?«
    »Du kannst mir nur dadurch weh tun, daß du deinen Kummer für dich behältst.«
    Ken trank einen Schluck. »Nach der Niederlage des Tokugawa-Clans im 19.
    Jahrhundert verarmte meine Familie schnell, paßte sich jedoch den neuen Verhältnissen an, indem sie ein Reedereiunternehmen in Hiroshima gründete.
    Hiroshima liegt am Setonaikai (Inlandsee von Seto) und eignete sich als Hafenstadt besonders, weil die See dort vor Taifunen geschützt ist. Mein Großvater hatte Hanae, die Tochter eines neureichen Erdölkaufmanns aus Tokio, geheiratet. Hanae war hoch gebildet und vollkommen haikara, ein Modewort, was damals geprägt wurde und sich auf alles bezog, was fortschrittlich und elegant war. Das Ehepaar hatte bereits zwei Söhne, als eine Tochter zur Welt kam: Mayumi, meine Mutter.«
    Ken verstummte; ich sah zu seiner Hand auf; seine Finger hatten sich um den Becher gekrümmt. Er wandte den Kopf. Unsere Blicke trafen sich. Er streckte seine freie Hand aus, zog mich an sich und kraulte mein Haar. Ich lehnte das Gesicht an seine Schulter.
    »Ich sehe meine Mutter noch heute vor mir«, sagte er. »Für eine Frau ihrer Zeit war sie groß gewachsen, aber erschreckend dünn, fast hohlwangig. Ihre Augen waren von Ringen umgeben, dunkel wie Rauch. Ihr Haar war fein und kurz geschnitten, und ihr Gesicht schien irgendwie im Halbschlaf zu liegen. So jedenfalls habe ich sie in Erinnerung. Aber das war nicht immer so gewesen. Ich besitze eine Fotografie von ihr, die sie als junges Mädchen zeigt. Damals war ihr Gesicht ein fast vollkommenes Oval. Ihre Stirn war breit, mit hochgeschwungenen Brauen, die sich über der geraden Nase beinahe trafen. Der Bogen über ihren Augen war von großer Schönheit, und auch die glatte, klare Biegung vom Lid aufwärts. Die geschweiften Lippen zeigten jene Andeutung eines halben Lächelns, das man zuweilen auf den Gesichtern griechischer Statuen sieht. Ihr wundervoll schlichtes Haar trug sie offen, mit einer Spange aus Schildpatt geschmückt.
    Natürlich war das Portrait retuschiert worden. Alle Gesichter wurden damals auf die gleiche Weise zurechtgemacht. Aber ich will nicht glauben, daß sie nicht so war, wie ich sie auf dem Bild sah. Seit ein paar Jahren vergilbt das Foto, ihr Gesicht wird immer ferner… so fern. Es versinkt in die Vergangenheit, löst sich 323
    ganz in sich auf.«
    Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Seine Stimme klang wieder sachlich.
    »Mayumi, meine Mutter, hatte schon als Kind einen eigenwilligen Charakter.
    Sie besuchte zuerst eine höhere Privatschule in Hiroshima. Sie wollte Malerin werden und erreichte es, daß man sie zur Ausbildung nach Tokio schickte. Mayumi konnte bei ihren Großeltern wohnen und die Kunstakademie besuchen. Große Teile von Tokio waren 1923 durch ein Erdbeben zerstört und neu und modern aufgebaut worden. Die japanische Künstlerszene öffnete sich begierig allen Einflüssen aus dem Westen: Dadaismus, Konstruktivismus, Expressionismus.
    Daneben fühlte sich Mayumi von der Tanz- und Theaterwelt angezogen. Unser traditionelles Kabuki faszinierte sie ebenso wie Diaghilews Ballets Russes oder Antonia Mercé-la Argentina. In der Folge entdeckte sie die magische Dimension der Bühnengestaltung. Das japanische Bürgertum lebte noch sehr sittenstreng, aber die Künstler und die Oberschicht dachten sehr fortschrittlich. Das gesellschaftliche Leben verlief nicht viel anders als in ähnlichen Kreisen in Europa und in den Vereinigten Staaten. Fasziniert von der europäischen Avantgarde setzte Mayumi es durch, daß ihre Eltern ihr einen Aufenthalt in Europa erlaubten. Mayumi reiste allein – in der damaligen Zeit etwas Außergewöhnliches. Ein Empfehlungsschreiben von Graf Coudenhove-Kalergi, dem späteren Gründer des Europarates – dessen japanische Mutter eine Verwandte war –, öffnete ihr alle Türen. Mayumi blieb zwei Jahre in Europa. Sie reiste herum, von Wien nach München, von Zürich nach Florenz, wieder zurück über Paris nach London, und dann wieder südwärts nach Monte Carlo, Capri und Rom. Schließlich mietete sie ein kleines Atelier in Paris. Sie studierte bei Fernand Léger, verkehrte in den Künstlerkreisen von Montparnasse. Ihre Freunde hießen Antonin Artaud, Foujita, Jean Cocteau, Salvador Dali, Robert und

Weitere Kostenlose Bücher