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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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einziges Leben zerstört, hat damit gleichsam die ganze Welt zerstört.
    Die Wahrheit des Krieges sind weder nobel klingende Worte noch großartige Heldentaten. Die Wahrheit des Krieges sind Menschen in Furcht, leidende Menschen. Flüchtlinge, in Lastwagen gepfercht, stöhnend, schreiend, verzweifelt.
    Unschuldige, die in schreckliche und unbegreifliche Ereignisse hineingezogen werden. Frauen mit kleinen Kindern; Mütter, die von ihren Kindern getrennt werden, alte Menschen, die zertrampelt werden; in Stücke gerissene Soldaten, die sich vielleicht noch mit dem letzten Funken Bewußtsein ›Warum?‹ fragen, bevor ihr Schädel explodiert und ihre Gedärme in Fetzen fliegen.«
    Die Schatten vertieften sich. Wirre Geräusche zogen durch die Nacht. Es war ein Rauschen von Blättern und manchmal ein Knirschen, wenn Zweige aneinanderrieben. Da war jetzt mehr als die allgemeine Finsternis, der Garten brodelte von Gestalten. Sie bewegten sich und flossen ineinander über. Ich packte Kens Hände und hielt sie fest. Seine Haut fühlte sich kalt an.
    »Frierst du?«
    »Du weißt, daß ich nie friere. Wir gehen jetzt. Bist du bereit?«
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    Ein Grauen überlief mich. Für dich muß es schlimmer sein. Viel schlimmer. Du forderst die Gespenster der Vergangenheit heraus; du opferst den Frieden deines Herzens. Du kannst nicht mehr zurück. Von hier ab wirst du sehen müssen, was du sehen sollst.
    Du willst vor mir keine Geheimnisse haben, die tiefer sind als der Schatten eines Blattes auf dem Wasser. Du willst mein Vertrauen festigen. Ich soll wissen, wer du bist. Aber das weiß ich doch schon längst, mein Geliebter. Ich bin der Wanderer an deiner Seite, der stille Atem, der deinen Herzschlag begleitet, die Hand, die nicht widerstrebt, wenn du sie mit dir ziehst. Ich bin bei dir, und wenn es sein muß, führe ich dich. Komm! Laß uns gemeinsam in die Schatten tauchen.
    »Nicht Werkzeuge führen den Krieg«, sagte Ken. »Nicht Panzer, Bomben, Flugzeuge, Raketen. Nein. Es sind einzig die Menschen, die sie abwerfen, auf die Knöpfe drücken, die Motoren starten. Gehorsame Handlanger des Schicksals. Sie wissen um Gut und Böse und wählen letzteres. Weil sie glauben, daß es gerecht sei. Weil sie vollständig davon überzeugt sind.
    Der Krieg kam. Über Nacht, wie ein Unwetter. Mein Vater wurde eingezogen; man steckte ihn in eine Uniform und schickte ihn auf den Kriegsschauplatz. Ein vielsagender Ausdruck aus dem Wörterbuch der Strategen, dem großen Welttheater angemessen. Der Marschbefehl beorderte ihn nach Burma, wo sich die schwersten Kämpfe abspielten. Mein Vater sah Haß, Leid, Irrsinn, Angst und Brutalität, aber in seinen Briefen stand niemals ein Wort davon. Zensur. Die
    ›moralische Aufrüstung‹ der Angehörigen durfte nicht beeinträchtigt werden. Mein Vater konnte sich nicht an die Härte und Widrigkeiten der Front gewöhnen. Es war nicht sein Krieg. Kein Krieg war sein Krieg. In Aktion treten. Sich bewähren. In jedem Zivilisten einen Feind sehen. Weshalb? Wozu? Kriege sind ja nichts anderes als gesetzlich festgelegte Massenmorde unter staatlicher Förderung. Isami erzählte mir später, mein Vater habe oft erwogen, sich das Leben zu nehmen. Einen Strick um den Hals, eine Kugel in den Kopf. Sterben, ja, aber aus freiem Willen. Und keinem anderen Menschen auf Befehl schaden.
    Doch er dachte an Mayumi und an seine kleine Tochter. Seine Liebe wollte er weder der Nation noch dem Kaiser opfern, selbst wenn dieser eine Gottheit war.
    Kenji, mein Vater, glaubte nicht, daß irgendeine Gottheit Freude an den Leiden der Menschen haben könnte. Und schon gar nicht die Verkörperung der Sonne auf Erden; denn das war ja der Tenno in seiner männlichen Gestalt: eine Verklärung des femininen Elements, eine Transzendenz.
    Es waren ketzerische Gedanken, dem damaligen Weltbild nicht angepaßt. Kenji behielt sie lieber für sich; er wußte, man würde nicht viel Umstände mit ihm machen. So schluckte er seine Tränen, kotzte in Latrinen, unterwarf sich den Befehlen ordenbehangener Größenwahnsinniger. Er hoffte, er würde überleben.
    Aber die Zeit war krank, und alle Uhren liefen bereits rückwärts. «
    Draußen schluckte die Luft jede Spur von Licht. Vielleicht war es der Wind, 328
    der die Bäume bewegte; vielleicht etwas anderes, ein Hauch aus einer anderen Welt. Sie überzog Kens Haut mit einer Kälte, die von innen kam. Die Finsternis war wie ein offenes Tor, das zu den Totengeistern führte. Ken ging unbeirrt weiter.
    Er

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