Silbermuschel
Kulissen, in die Welt der Illusion; sie schien ihnen so viel realer.
Meine stolze, begabte Mutter! Sie trug am liebsten Schwarz oder Lila, weite Hosen und lockere Tunikas, auffällig in ihrer Schlichtheit, die sie entwarf und selbst nähte, und dazu barocke Schmuckstücke, Türkise, Korallen oder Bergkristalle, die sie auf ihren Reisen gesammelt hatte. Sie liebte elegante Schuhe.
An jenem Tag, als sie sich auf die Suche nach meinem Vater machte, trug sie nur Strohsandalen an den Füßen. Als sie mit ihm zurückkam, schleppte sie seine Kamera und das Stativ und hatte den Arm um seine Schultern gelegt. Er war auf einem Auge schon erblindet, er taumelte und würgte, und sie hielt ihn fest. Vor der Haustür brach sie zusammen, und ich sah ihre Fußsohlen wie einen schwarzen, blutigen Brei. In den pflaumengroßen Löchern hatten sich Kiesel, Splitter und Glasscherben angesammelt. Isami zog sie später einzeln heraus. Mit einem Zahnstocher. Meine Mutter gab keinen Laut von sich. Sie hielt den Kopf meines Vaters, der Blut in einen Eimer erbrach. Ich sehe noch die Geschwülste auf seinen Wangen, die Haarbüschel auf dem Rand des Eimers und das Blut wie rote Tinte, überall…«
Ken lehnte sich zurück auf den Ellbogen; seine Haut war von einem leichten Schweißfilm überzogen. Leise wehte der Abendwind im Blattwerk; die Finsternis draußen glich einem schwarzen Raum, in dem sich die Umrisse der Sträucher und Bäume verschwommen bewegten. Manchmal schimmerte Helle durch, und dann wirkten die Schatten beängstigend, schwarz und grau, aber größtenteils schwarz, sie vibrierten und verschwanden wieder. Eine plötzliche Panik überfiel mich.
Warum willst du dorthin zurück?
»Jetzt bin ich dran.« Ken nickte mit dem Kopf, wie als Antwort auf meine stumme Frage. »Ich wollte nie darüber reden. Und ich werde es nie wieder tun.
Nur noch dieses einzige Mal. Ich kann mit Trümmern nicht viel anfangen. Und Selbstmitleid liegt mir nicht. Kannst du das verstehen?«
»Ja«, sagte ich dumpf, »es kann eine Art von Bequemlichkeit werden.«
Bitter zog er die Mundwinkel herab.
»Manchmal reißt die Trennwand zur unsichtbaren Welt. Dann sieht der Mensch die unzähligen Leben, die gemeinsam mit ihm existieren. Da sind nicht nur die Lebenden; auch die loten scharen sich um ihn. Ist sich der Mensch dessen bewußt, überwindet er die Mauer seines Körpers, dringt zu den tausend Formen des Lebens vor, und diese Formen des Lebens dringen in ihn ein Sie werden lebendig. So desu, ne? Denkt man über die Schönheit nach so entsteht sie; hört man im Geist Musik, wird sie zu Klang und Tönen. Denkt man an das Böse, dann wird das Böse lebendig. Und jetzt gehe ich tiefer. Folge mir nicht, wenn du Angst hast. Es konnte 326
verdammt brutal werden.«
»Trink«, flüsterte ich.
»Ja.«
Er hielt mir den Becher hin, ich goß ihm Tee ein. Wind wehte draußen; die Büsche rückten näher; die Lampe brannte, aber das Zimmer schien mit Dunkelheit gefüllt. Ken sprach weiter; es war, als ob er laut dachte.
»Über Japans Eingreifen in den Zweiten Weltkrieg sind genug Worte verloren worden. Daß wir Japaner schlechter sind als andere, kann ich mir nicht vorstellen.
Ich glaube lediglich, daß wir nicht besser sind. Unter dem Vorwand, das Eindringen westlicher Mächte in Nordostasien zu vereiteln, spielten wir mit Arroganz das Spiel der Imperialisten. In den Hirnen unserer Militärclique spukte das Trugbild einer glorreichen Sphäre Großasiens unter japanischer Fuchtel. 1894
hatten wir China besiegt, 1905 Rußland. Korea wurde 1910 in Besitz genommen.
Wir fühlten uns in unseren Machtansprüchen sicher und griffen 1941 Pearl Harbor an und somit die Vereinigten Staaten. Egal, ob der Überfall zum Teil provoziert wurde – eine prahlerische Überschätzung der eigenen Kräfte und gleichzeitig eine entsprechende Unterschätzung der wirtschaftlichtechnischen Potenz der USA führte dazu, daß die Bomber starteten.
Völker sind manipulierbar. Unsere Ideologen brachten mit geschickter Propaganda den Höllenkessel zum Sieden. Wir plünderten, mordeten und folterten sehr gründlich und methodisch. Wir glaubten, es lohne sich, sich dem Kaiser und der Nation zu opfern. Das glauben alle Männer im Krieg. Habt ihr Schmerzen? Ein wenig, es geht. Gewissensbisse? Der Tenno ist groß und Japan unbesiegbar.
Banzai! Ihr werdet Helden werden, vom Kaiser geliebt. Der Talmud sagt: Wer ein einziges Leben rettet, hat damit gleichsam die ganze Welt gerettet; wer ein
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