Silbermuschel
ins Haus gezogen, um sie vor dem Regen zu schützen. Dann befeuchtete sie Stirn und Wangen ihrer Mutter mit einem nassen Tuch. Mayumi hob ächzend den Kopf und kam langsam zu sich. Verwirrung, Wiedererkennen und Schrecken wechselten in ihrem Blick ab. Sie richtete sich auf und rief nach meinem Vater. Er sei noch nicht da, sagte Isami. Meine Mutter preßte die Hand an ihre Stirn, als schmerzte sie. Sie war leichenblaß, und die Regentropfen hatten auf ihrem Gesicht schwarze, klebrige Spuren hinterlassen. Auch Isami und ich trugen diese Flecken auf unserer Haut. Meine Mutter sagte, wir sollten uns waschen. Da der Regen nachgelassen hatte, gingen wir zum Brunnen der Nachbarin. Ich klammerte mich an Mayumis Hand, die jetzt wärmer war. Auch kehrte die Farbe wieder in ihr Gesicht zurück.
Über Hiroshima lagerte eine schwarze Wolkenbank. Unter dieser Dunstmasse loderte es purpurn und gelb. Am Rand eines Feldes brannte ein Telegraphenmast wie eine große Kerze. Stickiger Rauch kroch tief durch die Straßen. Wir husteten und keuchten, unsere Augen waren blutunterlaufen und tränten. Noch unter der Schockwirkung unterhielt sich unsere Mutter ganz ruhig mit der Nachbarin. In einem normalen Menschen muß etwas sein, das in furchtbaren Stunden die Empfindung abstumpft. Die Nachbarin zeigte uns ihr Haus, das auf einer Seite schwarz und verbrannt war, während auf den drei anderen Seiten das Holz seine braune Farbe behalten hatte. Später bemerkten wir, daß unser Haus die gleiche verbrannte Holzseite hatte. Die Nachbarin holte für uns Wasser aus dem Brunnen.
Ihre Hand war dunkelbraun und voller Schwielen, hart geworden in siebzig Jahren unermüdlichen Schaffens. Sie war eine stämmige, gelassene Bäuerin. Sie hatte ihren Mann vor Jahren verloren, und von ihren Kindern waren vier Söhne im Krieg gefallen. Sie hatte längst alle Tränen vergossen, und ihre Ruhe war echt. Wir mußten tüchtig reiben, bis wir die Flecken auf unserer Haut los waren. Die Nachbarin meinte, daß es sich um Ruß handeln müsse. Sie sagte, man habe über Hiroshima eine besondere Bombe abgeworfen. Sie sei nahe beim Stadthaus gefallen; die Kuppel sei völlig zerstört.
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In der Stadt wüteten die Flammen. Der Widerschein der Brände färbte die unteren Wolkenschichten rot. Bald drehte sich der Wind, trieb den Rauch in eine andere Richtung. Unser Haus lag etwa vier Kilometer vom Stadtzentrum entfernt.
Es dauerte nicht lange, da sahen wir die ersten Flüchtlinge, vorwiegend Frauen, Kinder und ältere Leute. Jüngere Männer waren ja an der Front und alle Studenten in die Zivilschutztruppen eingezogen. Die Überlebenden taumelten in Gruppen daher, blutüberströmt und von Kopf bis Fuß mit einer Art grobkörniger violetter Asche bedeckt. Die Schwerverwundeten schleppten sie auf Schubkarren oder auf dem Rücken. Mir fiel ein Mann auf, der kein Fleisch mehr an Füßen und Beinen hatte. Man sah die weißen Knochen bis zu den Knien. Zwei Frauen trugen ihn auf einem Brett. Er bewegte sich noch. Kinder haben ein besonderes Empfindungsvermögen. Ich weiß nicht einmal, ob ich Angst oder Mitleid verspürte. Es kam mir bloß sehr unheimlich vor.
Ich erinnere mich auch, daß diese Menschen kaum schrien. Sie stöhnten meistens nur und baten um Wasser. Meine Mutter und die Nachbarin gaben ihnen aus dem Brunnen zu trinken. Die meisten Flüchtlinge waren wie benommen. Nur einige vermochten zu sprechen.
Eine Frau berichtete, im Flußbett häuften sich die Leichen, aufgequollen, verwesend. Ein alter Mann sagte, er habe aus einem öffentlichen Wasserhahn trinken wollen und sich an kochendem Wasser den Mund verbrannt. Und er schimpfte über die Angestellten der städtischen Wasserwerke, nichtsnutzige Burschen, die ihren Kopf nicht bei der Arbeit hatten. Eine irre lachende Frau klammerte sich an Mayumi und erzählte, das Schloß von Hiroshima sei über ihren Kopf geflogen. Der Wachturm habe in der Luft seine Form behalten. Er flog ganz gerade in südöstlicher Richtung, stammelte die Frau, von irrem Gelächter geschüttelt. Isami hörte zu, mit großen, stillen Augen. Die junge Frau war völlig entstellt, ihre Wange hing wie ein Beutel herunter; sie phantasierte offenbar. Nach Kriegsende fand man den Turm am anderen Ende des Wassergrabens, in Stücke zersprungen. Er hatte Tausende von Tonnen gewogen. Isami schrieb später eine Geschichte darüber: Der Schloßturm von Hiroshima.
Wann faßte meine Mutter den wahnwitzigen Entschluß, meinen Vater zu suchen? Vielleicht,
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