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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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als sie anfing zu begreifen, was hier geschehen war. Die ganze Zeit hatte sie nur auf Kenji gewartet. Bis dahin war alles nicht wahr gewesen, ihr Herz hatte nicht daran geglaubt. Jetzt wußte sie, er war mittendrin in dieser Todeslandschaft und würde dort sterben, wenn sie ihn nicht holte. Ich muß zu ihm, irgendwie muß ich es schaffen, nur dieser Gedanke zählte. Von Hiroshima waren nur noch halbverbrannte Gebäudekomplexe übrig. Aber das Haus ihrer Eltern… ja, vielleicht stand es noch. Schließlich war es keines von diesen leichten Holzhäusern, sondern ein gutes, solides Haus, von einem holländischen Architekten gebaut. Und wenn Mayumi auch tief in ihrem Herzen die furchtbare Wahrheit ahnte, änderte das nichts, im Gegenteil.
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    Mayumi sorgte sich um Kenji, wie sie sich um ihre Kinder gesorgt hätte. Alles, was stark in ihr war, sehnte sich danach, ihn zu trösten und zu beschützen. Von dieser einzigen Besessenheit gepackt, nahm sie uns an die Hand und brachte uns zur Nachbarin: Sie wolle zu ihren Eltern gehen und schauen, ob ihr Mann dort sei.
    Die Nachbarin behielt ihre Gedanken für sich und sagte nur, sie möge an die Kinder denken. Mayumi umarmte uns und ging.
    Als die Mutter sie nicht mehr sehen konnte, verbarg Isami ihr Gesicht in der Kittelschürze der Bäuerin und brach in Tränen aus. Ich hatte ein Stück Holz gefunden, auf dem die Form einer Heuschrecke eingebrannt war. Der kohlschwarze Schatten hob sich deutlich von dem übrigen Holz ab, das seine braune Farbe bewahrt hatte. Ich war ganz mit dieser Sache beschäftigt und merkte kaum, daß meine Mutter fort war.
    Inzwischen schleppte sich die schöne junge Frau, einst in Paris umschwärmt und in Künstlerkreisen gefeiert, auf Strohsandalen und in blut- und rußgeschwärzten Kleidern der Stadt entgegen. Von den Dingen, die ihr auf diesem Weg begegneten, hat sie nie gesprochen. Sie erzählte lediglich, daß von Hiroshima nichts mehr vorhanden war als da und dort einige brennende Gebäude. Schwarzer Rauch quoll aus allen Fenstern, aber nur auf einer Seite; sobald der Wind sich drehte, wirbelte der Qualm zurück, während neue Rauchwolken aus den gegenüberliegenden Fensterfronten schossen. In gewissen Abständen stürzten ganze Stockwerke in die Tiefe, und dann fegte der Qualm wie aus einem Ofenloch über die Straße. Die Menschen, die vorbei wollten, mußten warten, bis der Rauch sich verzogen hatte. Ihre Gesichter waren geschwärzt, ihre Augen blutunterlaufen, alle husteten und würgten und hielten sich feuchte Tücher vor den Mund. Der weiche Asphalt klebte unter Mayumis Strohsandalen, jeder Schritt wurde zur Qual.
    Bald waren ihre Sohlen zerfetzt; da ging sie barfuß weiter. Unweit der Trümmer des Bahnhofsgebäudes versperrte eine Polizeiabteilung die Straße. Mayumi überlistete sie, indem sie einfach durch ein zerstörtes Haus ging, über Geröll stieg und auf der anderen Seite wieder herauskam.
    Das Haus meiner Großeltern war nur noch eine Masse aus Steinen, Mörtel und Schutt, aus dem einige zerknickte Eisenbalken ragten. Von unserer Familie war keiner mehr am Leben. Mayumi jedenfalls fand auch meinen Vater wieder. Er war leicht zu finden in Hiroshima. Er stand dort, wo sich der jetzige Friedensplatz befindet, unweit des Stadthauses, das heute den Namen Genbaku Dômu (Atomkuppel) trägt und damals die Halle für Industrieförderung war, an jenem Ort des Bodennullpunkts der Atomexplosion, wo die maximale Hitzeentfaltung die Werte der Sonnenballoberfläche erreichte. Die Außenwände des Gebäudes hatten der Druckwelle standgehalten, während das Eisengerüst der Kuppel noch stellenweise glühte. Kenji hatte seine Kamera am Flußufer aufgestellt. Ein paar Schritte von ihm entfernt stand das verbrannte Gerippe einer Straßenbahn. Der verkohlte Leichnam des Fahrers umklammerte mit seinen schwarzen 342
    Fingerknochen das Handrad. Die Leichen einiger Fahrgäste, zusammengeschrumpft wie tausendjährige Mumien, saßen noch auf den Wagenbänken.
    Mein Vater bemerkte die Anwesenheit Mayumis nicht. Er drückte die Augen an den Sucher und filmte etwas, was außerhalb vom Blickfeld meiner Mutter lag.
    Im rötlichtrüben Licht ging sie näher an die Böschung und sah hinunter in den Fluß. Das Wasser war verdunstet, und auf dem schlammigen Grund staute sich ein Damm aus hochgehäuften Trümmern, Unrat und Leichen.
    Nach einer Weile trat Mayumi an Kenji heran und berührte sachte seinen Arm.
    Zuerst bewegte er sich nicht, dann wandte er ihr langsam

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