Silbermuschel
Form bewahrt hatte.
Über diesem Berg, mit seinen Baumgespenstern, flirrte der Regenbogen wie ein Tränenkranz. Soweit wir sehen konnten, hatten alle Häuser ihre Ziegel verloren.
Und – wie seltsam – ihre grüne Glasur war plötzlich rostrot und grobkörnig zusammengeschrumpft.
Fast alle Häuser waren eingestürzt; die Leute schleppten Verwundete aus den Trümmern und legten sie auf die Straße. Manche waren blutüberströmt und schrien laut. Ihre Stimmen mischten sich in das wirre Klagen, das seltsam gedämpft aus 338
der rauchenden Stadt erscholl – nicht wie aus tausend schluchzenden Kehlen, vielmehr wie eine einzige Stimme, als beweine Hiroshima selbst seine Vernichtung und seufze und stöhne in Todesqualen.«
Ken rieb sich die Stirn mit müder Bewegung. Ich war starr vor Entsetzen.
»Und in diesem Augenblick«, sagte Ken, »verlor mein Vater den Verstand. Ich will damit sagen, daß er anscheinend kaltblütig etwas völlig Wahnsinniges tat. Es war kein Schrecken auf seinem Gesicht, nur etwas Unbestimmbares, ein Aufgewühltsein, das nur ihn allein betraf. Etwas mochte in ihm stecken, das keiner nachempfinden konnte, der nicht im burmesischen Dschungel das Glühen feindlicher Granaten im eigenen Fleisch gespürt hatte. Das Unheil und die Dramatik der Szene hatte mein Vater wie ein Bühnenbild in sich aufgenommen. Er war ein Regisseur; und als solcher wollte er Zeugnis ablegen. Bei den Schwiegereltern hatte er eine seiner alten Kameras wiedergefunden, ein schweres, unhandliches Modell. Er holte jetzt diese Kamera, lud sein Stativ auf die Schulter und sagte zu meiner. Mutter in ruhigem, fast beiläufigem Tonfall, sie solle bei den Kindern bleiben, er wolle das filmen. Er merkte vermutlich nicht, daß Mayumi sich in einem Schockzustand befand. Oder, weil sie stets so gefaßt war, mochte er ihr Schweigen als Einverständnis gedeutet haben. Vielleicht wußte sie auch, daß sie ihn nicht zurückhalten konnte.
Er nahm sich sogar noch die Zeit, seinen Hut aufzusetzen. Dann ging er. In einem Schutthaufen, ganz in der Nähe, war ein Mädchen bis zur Taille in ein Balkengewirr eingeklemmt. Sie drehte schreiend den Oberkörper hin und her, wie eine Figur in einer Kirchenuhr. Mein Vater blieb stehen, hob den Sucher an seine Augen. Sie schrie, bewarf ihn mit Ziegelscherben. Mein Vater schüttelte den Kopf und ging weiter. Wir sahen ihn auf der Straße, wie er sich in Richtung Stadt entfernte. Manchmal wechselte er ein paar Worte mit den Leuten. Er drehte sich kein einziges Mal nach uns um.
Die Wolkenbank über Hiroshima färbte sich safran, dann indigo, dann schiefergrau. Dann sank die Temperatur, und es wurde eiskalt. In den unteren Wolken schichten grollte Donner. Und plötzlich klatschten Regentropfen auf den Boden. Ich sehe noch das Gesicht meiner Mutter, dem Himmel zugewandt, mit ihren dichten Haarsträhnen, die um ihre schöne Kinnlinie wehten. Und dann sehe ich noch etwas anderes: Der Wind brachte kleine schwärzliche Fetzen mit sich, Papier oder Mattenteilchen, die langsam um uns herum zu Boden rieselten. Und als ich neugierig danach griff, fiel einer dieser Fetzen in meine Hand. Ich besah mir das Material, das sich auf ganz eigentümliche Weise zusammenzog und dehnte.
Meine Mutter betrachtete es auch; dann hörte ich, wie sie aufschrie. Noch heute, nach all den Jahren, gellt mir das Echo dieses Schreies in den Ohren. Denn das halbverbrannte Material, das der Wind in meine Handfläche geweht hatte, war ein Fetzen menschlicher Haut. Und in meiner Erinnerung sehe ich jetzt meine Mutter schwanken, langsam in die Knie sinken. Ihre Augen verdrehen sich, ihr Kopf fällt 339
zur Seite. Dann sackt sie nach vorn, rollt herum und liegt ganz still, wie schlafend, während der Wind immer mehr angesengte Hautfetzen durch die Luft trägt.
Manche brennen noch. Sie wehen ins Gras, glühen noch ein paar Sekunden und zerfallen dann zu Asche.«
Kens Stimme war dumpf und monoton, als spräche er zu sich selbst. Ich selbst war zu keinem Wort, keiner Bewegung fähig. Wir lebten, aber der Tod war bei uns und streifte uns mit seinen Flügeln. Und wir waren es, die ihn heraufbeschworen hatten.
»Als meine Mutter aus ihrer Ohnmacht erwachte«, fuhr er fort, »war ziemlich viel Zeit vergangen. Zuerst hatte Isami nicht gewußt, was sie tun sollte. Überall herrschte Verwirrung, und sie traute sich nicht, die Nachbarin zu rufen. Schließlich hatte sie die Glassplitter von den Matten gefegt, Mayumi unter die Arme gegriffen und sie
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