Silbermuschel
auch in enger Beziehung zu Bäumen und Blumen, zu Gemüsepflanzen, Gewächsen aller Art. Sie spiegeln die Seele der Natur in durchsichtiger Klarheit, und die Kinder sollen mit ihr vertraut werden. Den Klang dieser Reime habe ich heute noch in Erinnerung, mit dem Echo ihrer Melodie, ihren Worten, ihrem Rhythmus. Zum Beispiel: Warum fliegt die Schwalbe so schnell?
Sieben junge warten in ihrem Nest,
Bald fliegen alle davon. Oder auch:
jeden Morgen, wenn die Sonne aufgeht,
Wachen die Blüten auf.
Jeden Abend, wenn die Sonne sinkt,
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Schlafen die Blüten ein.
Wir lernten, daß jeder Augenblick voller Leben pulst, sowohl in den Kiefern wie in den Sommergräsern, daß die Schönheit in ihrer Vergänglichkeit immer lebendig ist. Jedes auch noch so kleine Lebewesen ist etwas Heiliges, die Grille ist ebenso wichtig wie die Seidenraupe.
Da ich sonst kaum Spielsachen hatte, entwickelte ich eine enge Beziehung zu den Dingen: Ich sprach mit einem großen Stein in unserem Garten und hob ihn hoch, um ihm die Landschaft zu zeigen. Einmal nahm ich eine Schöpfkelle mit nach draußen, weil sie mir in der dunklen Schublade leid tat. In unserer Küche stand ein großes Tongefäß, das mit Wasser gefüllt war. Ich schnitt das Wasser mit einer Sichel und schalt mit ihm, weil es sich nicht teilen ließ.
Inzwischen besuchte Isami eine Grundschule für Landkinder, deren Lehrplan ihren Ansprüchen nicht gewachsen war. Zum Glück besaßen die Großeltern eine Büchersammlung, die dem Wissensdrang meiner kleinen Schwester entgegenkam.
Diese Bücher – zumeist chinesische Klassiker, Geschichten des Alten Testaments oder japanische Übersetzungen der englischen Literatur – waren keine geeignete Lektüre für Kinder, aber Isami ließ sich stundenlang davon fesseln. Überall, bei jeder Gelegenheit, hatte sie ein offenes Buch in der Hand oder ein geschlossenes unter dem Arm. Meine Eltern versuchten, sie nicht fühlen zu lassen, wie stolz sie auf sie waren. Isami wirkte immer etwas abwesend, mit einem Ausdruck des Lauschens auf dem Gesicht. Ihre Pupillen sahen einen immer ein wenig von der Seite an. Aber sie beobachtete scharf, nichts entging ihr. Auch hatte sie ein sicheres Gefühl für das, worauf es bei den Menschen ankam, und meine Eltern hatten gelernt, sich vor jedem vorzusehen, der ihr mißfiel. Dabei war sie ganz unbefangen. Ihr Lächeln kam und ging wie ein Sonnenstrahl. Sie war seit ihrer Geburt ein Rätsel gewesen. Aber was immer es mit Isami auf sich haben mochte, es war etwas Gutes…
Meine Eltern ließen sich durch die prahlerischen Siegesmeldungen im Radio nicht täuschen. Man betrog die japanische Öffentlichkeit. Den Soldaten wurde vorgelogen, daß der Sieg in Reichweite sei. Am ehrenvollsten sei es, sich als lebende Bomber auf feindliche Kriegsschiffe zu stürzen. Diese Gehirnwäsche wurde sehr gewissenhaft betrieben. Kamikaze – Götterwind – ist ein Wort, das man inzwischen in allen Sprachen versteht.
Meine Eltern hofften auf ein baldiges Ende des Krieges. Wie schnell dieses Ende kam, konnten sie nicht voraussehen. Und auch nicht, daß das Schicksal sie ausgerechnet in jene Stadt geführt hatte, die am 6. August 1945 unter zehntausend Grad – die Temperatur des Sonnenballs – verbrennen würde. Und daß es 200.000
Tote, 80.000 Verletzte geben würde – in genau neun Sekunden.
Zwei Tage später: Nagasaki. Diesmal eine Plutoniumbombe, die noch rechtzeitig getestet werden sollte, bevor Japan sich für besiegt erklärte. Die Japaner 336
eigneten sich gut als Versuchsobjekte. Sie waren gefährliche Gegner. Und Asiaten noch dazu. Sonst hätte man womöglich Bedenken gehabt.
Diese zweite Bombe war dreimal stärker als die Uranbombe, die Hiroshima vernichtete. Sie explodierte – Provokation oder Ironie des Schicksals –
ausgerechnet über Urakami, der größten und ältesten Siedlung der japanischen Christen. Man hatte sich die Kathedrale als Zielscheibe genommen. Hier gab es 150.000 Opfer.
Irgendwann werden solche Ziffern nichtssagend. Für die Strategen und Politiker bedeuten die Folter der Strahlungen, die genetischen Mißbildungen, der erbliche Wahnsinn sowieso nur abstrakte Begriffe, mit denen man im Rahmen eines ›zumutbaren Standes der Zerstörung‹ eben rechnen muß. Bleibt nur noch die Frage, was wohl als unzumutbar gelten könnte. Den ganzen Planeten in die Luft zu sprengen?«
Kens Stimme hörte sich heiser an. Ich füllte den Becher, setzte ihn an seine Lippen. Er trank, verzog das Gesicht und
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