Silbermuschel
das Gesicht zu. Seine Augen mußten stundenlang an den Sucher gepreßt gewesen sein; die Druckstelle hatte die Haut eingedrückt und entzündet. Sein Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit entstellt: Auf beiden Wangen hatten sich klebrige Geschwüre aus Blut und violetten Fasern gebildet. Er starrte Mayumi an, als habe er sie nie gesehen, doch ließ er es willenlos zu, daß sie seine Hand nahm und ihn mit sich zog. Weil er vor Schwäche taumelte und seine Schuhe immer wieder im Asphalt stecken blieben, lud Mayumi das Stativ auf ihre Schultern. Sie schleppte die schwere Kamera den ganzen Weg zurück. Daß kein Film im Gehäuse steckte, stellte sie erst nachträglich fest. Mein Vater folgte ihr wie ein Kind. Irgendwann schob er seinen Hut zurück, um sich über die Stirn zu wischen, und Mayumi sah, daß sein ganzes Haar an der rechten Seite des Kopfes weg war.«
Das Grauen kroch über uns, sanft und eisig, fegte alles vernünftige Denken fort.
Unser Atem stockte, unsere Herzen pochten schwer, weil uns in der Dunkelheit die unsichtbaren Totengeister heimsuchten. Doch sie waren nicht zornig. Und wir fühlten keine Furcht vor ihnen, nur Wehmut.
»Mein Vater starb zwei Tage später«, sagte Ken. »Er glühte beinahe im Dunkeln. Seine Eingeweide und seine Blase waren verbrannt, er schrie laut vor Schmerzen. Sein Rachen war derart angeschwollen, daß er schließlich erstickte.
Meine Mutter blieb die ganze Zeit bei ihm. Sie konnte ihm den Todeskampf nicht erleichtern. Als es vorbei war, legte sie eine Decke über ihn. Und später kamen ein paar Männer und schafften seinen Leichnam weg. Er wurde verbrannt, mit den anderen.«
Ich weinte still. Nach einer Weile wandte Ken sich nach mir um. Doch ich hielt die Augen geschlossen und fühlte nur seine Hand, die mein Gesicht streichelte.
»Und nun«, hörte ich ihn sagen, »erreichen wir den Punkt, wo zwischen dir und mir alles begonnen hat. Wo das Schicksal den geheimnisvollen Funken entzündete, über den halben Erdball hinweg. Als Japaner neige ich zum Irrationalen, was mich nicht davon abhält, für gewisse Dinge eine logische Erklärung zu suchen. Aber es ist schon so, daß Menschen und Natur einander entsprechen, daß dieselben Mächte, die auch uns beseelen, die entlegensten Zeiten und Räume durchdringen.
Als meine Mutter gegangen war, nahm uns die Nachbarin in ihr Haus. Sie gab 343
uns eine warme Miso-Suppe zu trinken, zog ihren Futon aus dem Bettschrank und sagte, wir sollten uns hinlegen. Wir waren müde und schliefen bald ein. Doch es war kein guter Schlaf. Ich hatte einen häßlichen Traum, schreckte plötzlich hoch und weinte, weil meine Mutter nicht da war. Isami atmete stockend und schwer; ich schüttelte ihren Arm, doch sie drehte sich auf die andere Seite und schlief weiter. Da schlich ich aus dem Zimmer, verließ unbemerkt das Haus und lief den Weg entlang, in die Richtung, die meine Mutter gegangen war. Die Wolken schwebten wie schwarze, aufgeblasene Türme über der brennenden Stadt. Nur am höchsten Himmel schimmerte etwas Blau.
Zwischen den Trümmern wankte barfuß ein Mädchen; sie führte eine Frau, die Kopf und Gesicht in ein blutgetränktes Tuch gewickelt hatte. Ein alter Mann kauerte vor einem Stück Backsteinmauer und übergab sich. Gelbe Flüssigkeit flöß aus seinem Mund. Etwas weiter sah ich ein Pferd auf einem Feld liegen; der schwärende Leib des Tieres, dick angeschwollen, spannte sich bei jedem Atemzug und fiel wieder zusammen. Schwarze und grüne Fliegen hüpften auf dem klebrigen Fell. Ich erinnerte mich, daß meine Mutter für die Verwundeten Wasser schöpfte.
Ich wollte dem kranken Tier zu trinken geben und sah mich um. Gleich neben dem Feld war ein kleiner Tümpel. Ich schöpfte Wasser mit der hohlen Hand und brachte es dem Pferd, doch es hatte die Beine auf eigentümliche Art von sich gestreckt und rührte sich nicht mehr. Erst jetzt bemerkte ich, daß ein paar Schritte weiter ein Mann lag. Seine Gummistiefel waren an den Füßen geschmolzen, und aus seinen verbrannten Kleidern quoll ein Beutel farbiger Gedärme. An dem Gedärmehaufen klebte ein Fliegenklumpen, der wütend aufschwärmte, als ich näher trat. Ein dumpfer, süßlicher Geruch schlug mir entgegen. Ich betrachtete die weißen Zähne, die verschleierten Augen, das Blut. Die Fliegen kitzelten an meinen Nasenlöchern, tanzten in meinen Augenwinkeln. Ich kratzte mich und scheuchte sie weg. Die ganze Luft schien vor Hitze zu schwingen. Ich ging zum Tümpel, trank etwas Wasser.
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