Silbermuschel
hustete.
»Das war’s also.«
Er warf den Kopf zurück, wie um die Beklemmung abzuschütteln und wieder klar zu denken, und zeigte auf die Uhr an seinem Handgelenk.
»Der Zeiger blieb stehen, um 8.15 Uhr, als die Bombe fiel und alle Magnetfelder störte. Es war ein sehr warmer Tag. Meine Mutter hatte gerade Reis auf dem Herd angewärmt und hob den Deckel, als draußen plötzlich ein Licht aufleuchtete. Das war überaus seltsam, weil die Sonne doch bereits schien – dieses Licht brannte jedoch viel kreidiger. Und es war unser Glück, daß die Hauswand uns von dem Licht abschirmte, daß wir es nicht direkt sehen konnten, sondern nur einen schwachen Abglanz davon. Eine Sekunde lang war um uns herum eine Reglosigkeit, als drehe die Erde sich nicht mehr um ihre Achse. Und in dieser Sekunde – das sehe ich noch so genau, als wäre es gestern gewesen – leerte mein Vater blitzschnell den Wasserkrug über das Herdfeuer aus. Im selben Augenblick brach ein Donnerschlag los. Eine ohrenbetäubende, brodelnde Schallwelle wie das Explodieren eines Vulkankraters. Die Welt um uns herum schien sich aufzulösen, zu versinken. Das Haus schwankte, der Boden hob sich, als werde er von einem darunter verborgenen Ungeheuer emporgestemmt. Balken krachten, die Holzwände ächzten und knirschten. Wie in einem Alptraum schaukelte das Haus langsam und mächtig hin und her. Ziegel polterten vom Dach. Klirrend stießen Teller und Schüsseln zusammen, alles Geschirr ging in Trümmer und sämtliche Scheiben platzten. Meine Eltern rissen uns in ihre Arme, schützten uns mit ihren Körpern, während das Donnern allmählich verebbte; zurück blieb ein dumpfes Grollen, wie ein Echo, das von Berg zu Berg in immer weitere Ferne wandert.
Dann erlosch auch dieses Grollen. Mit Ausnahme einiger zerbrechender Ziegel kehrte Stille ein. Von draußen ertönten vereinzelte Schreie, doch sie kamen von weither und verstummten schnell. Meine Eltern richteten sich langsam auf. Keiner 337
brachte einen Ton über die Lippen. Sie dachten natürlich an ein Erdbeben. Alles war so plötzlich gekommen, daß ihnen keine Zeit geblieben war, Körper und Geist darauf umzustellen. Die Geräusche und Eindrücke trafen sie nicht unmittelbar, sonder gedämpft, verhüllt, wie hinter einer Schutzschicht zwischen Geschehnis und Wahrnehmung. Meiner Schwester und mir, die ja die ganze Welt als Phantasiegebilde sahen, kam das Ganze so unwirklich vor, daß wir nicht einmal schrien. Außer ein paar Schrammen und Schnittwunden waren wir unverletzt.
Überall lagen Schutt und Scherben, die Druckwelle hatte sämtliche Ziegeln vom Dach gefegt, aber das Haus stand, und wir waren noch einmal mit dem Leben davongekommen.
Doch irgend etwas war nicht normal. Isami erzählte mir später, sie habe es sofort empfunden, dieses furchterregende Gefühl, das von draußen kam und ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Vielleicht hing es mit der Dämmerung zusammen, die auf einmal den Himmel überzog. Als wir unsere Gesichter dem Fenster zuwandten, sahen wir einen brodelnden Wolkenteppich alle Farben löschen. Ein Gewitter? Es schien einfach unmöglich, und aus der Ferne tönte wieder das geisterhafte Wehklagen. Die Drohung hinter diesen Geräuschen, diesem plötzlichen Zwielicht überschattete die Erleichterung, daß alle unversehrt waren. Etwas Furchtbares mußte geschehen sein. Wir erhoben uns auf schwankenden Füßen und traten nach draußen. Und da sahen wir sie: Über Hiroshima quoll eine Wolke empor; sie war, wie die Rauchwolke eines Vulkans, eine Cumuluswolke mit sehr festen, abgerundeten Rändern.
Diese Wolke glich einem Gesicht auf einer Säule, einer schwankenden Riesenfratze, die sich einmal auf die eine, dann auf die andere Seite drehte. Und während sie in die Höhe wuchs, blitzte es kurz auf, einmal nach rechts, einmal nach links, und dann wechselte das Gesicht seine Farbe, wurde rot, violett, blau und grün. Und die Säule blähte sich auf, segelte langsam hin und her; sie war ganz glatt, wie eine straffe, kompakte Muskelhaut. Und aus ihr wuchs das Angesicht des Teufels, des absolut Bösen, von den Menschen aus seinen Ketten befreit. Es war das erste Mal, daß sie ihn in dieser Form losließen.
Und während wir stumm, wie gelähmt, dem Teufel ins Angesicht starrten, schwebte ein weißer Regenbogen über dem Berg Furue. Isami fiel auf, daß alle Bäume auf dem Hang entwurzelt und verbrannt waren. Sie lagen in wirrem Durcheinander da, völlig verkohlt, wobei jeder Baum seine
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