Silbermuschel
Schreine, die den Feuersturm überstanden hatten. Verkommene Ruinenfelder, Baracken und Betonklötze, wuchernde Industrieanlagen, verstopfte Straßen, Luftverschmutzung und Gedränge brachten Tokio ein paar Jahrzehnte lang den Ruf als eine der häßlichsten Großstädte der Welt ein.
Ich wuchs wild und lärmend auf. Doch das war nur, weil ich aus der Stille kam, aus einem Ort, wo die Menschen bedrückt und traurig waren. Die Wolke der Zerstörung hatte sich verzogen; doch die Bewohner von Hiroshima und Nagasaki bewahrten das Grauen in ihren Herzen. Man spürt es sogar noch heute. Beide Städte wurden neu aufgebaut, mit hellen Gebäuden und windoffenen Straßen.
Überall wachsen Bäume und Blumen, Springbrunnen funkeln in der Sonne. Ein ständiges Klingeln erfüllt die Luft: Schwärme von Schulkindern gleiten auf Fahrrädern an den Fußgängern vorbei. Alles wirkt bunt und fröhlich; doch wer genauer hinhört, vernimmt ein Schweigen, wie man es manchmal empfindet, wenn man an einem hellen Frühlingsmorgen über einen Friedhof wandert. Denn noch heute sterben Menschen an den Folgen des Abwurfs, in aller Stille.
351
Auch meine Mutter. Ihre Kräfte schwanden dahin, ganz allmählich.
Mirgräneanfälle und Schmerzen in den Knochen traten immer häufiger auf und fesselten sie tagelang ans Bett. Manchmal mußte sie für mehrere Wochen ins Krankenhaus. Die Tochter unseres Nachbarn pflegte meine Mutter und kümmerte sich um den Haushalt, während Isami und ich in der Schule waren. Wir hatten Aikosan sehr gern: Sie war eine typische Edoko, ein ›Kind von Edo‹. Das bedeutete, daß ihre Familie seit mindestens dreihundert Jahren in der Hauptstadt, die früher Edo hieß, ansässig war. Und das bedeutete ebenfalls, daß sie ein lockeres Mundwerk hatte und ihre Meinung selten für sich behielt. Ihr Mann war im Krieg umgekommen, wobei sie ungeniert bekannte, daß sie es nicht als allzu großes Unglück empfand. Sie besaß einen schier unerschöpflichen Schatz alter Geschichten, absonderlicher Sagen und nicht immer stubenreiner Sprüche und Spottlieder. Ich kann mich nicht erinnern, jemals aus der Schule gekommen zu sein, ohne eine wunderliche Geschichte von ihren lachenden Lippen vernommen zu haben. Auf diese Weise merkte ich kaum, wie die Krankheit meine Mutter mit Stille erfüllte, und ich frage mich heute, ob die beiden Frauen es nicht bewußt darauf abgesehen hatten. Mayumi klammerte sich nicht mehr an das Leben, es war ihr gleichgültig geworden. Sie hielt sich leicht vornüber gebeugt, atmete hastig wie ein erschöpfter Vogel. Ihre Lippen waren weiß und spröde geworden, ihre Finger bewegten sich in ruhelosem Greifen nach dem Wesenlosen. Ich wußte, daß sie bald sterben würde, wußte es mit dem tiefen Instinkt eines Kindes, das den Tod bereits erlebt hatte. Es hat schon einen Sinn, zu sagen, daß in gleichem Maße, wie ihre Kräfte nachließen, ich um so gieriger nach dem Leben griff, um es festzuhalten, auch für sie. Ich liebte sie über alle Maßen, mein ganzer Körper krümmte sich beim Gedanken, sie zu verlieren. Ich wurde rücksichtslos, widerspenstig, vorlaut.
Ich begnügte mich nicht mehr mit Lesen, Hinhören, Hinsehen. Laut schreien mußte ich, mich bemerkbar machen; das war alles, was ich in meiner Panik fertigbrachte, und zwar kopflos. Ich war immer in Eile, immer außer Atem, führte niemals zu Ende, was ich anfing. Ich sah meine Mutter an, sah die flackernde Umrißlinie, die Aura des Todes um ihre magere Gestalt. Kinder sehen solche Dinge. Ich lief vor der Gewißheit davon, daß sie sterben würde, vor dieser Ungeheuerlichkeit.
Sie ahnte, was in mir vorging. Wir verstanden uns auch ohne Worte. Ich erinnere mich, wie sie mich beobachtete, ein feines Lächeln auf den ausgetrockneten Lippen. Du darfst nicht traurig sein, nicht weinen, schien ihr Lächeln zu sagen. Du sollst toben und lärmen, wie du willst, sollst deine Lebenskraft stärken. Du machst mich nur unglücklich, wenn du niedergeschlagen und still bist.
Auf diese Art beschützte sie mich wie früher. Sie baute einen Schild gegen die Dunkelheit für mich auf, schenkte mir rückhaltlos ihre eigene Kraft, um mich stark zu machen für die Zukunft. Daß ich geworden bin, was ich bin, habe ich ihr zu verdanken. Mein ganzes Leben steht im Zeichen des Todes. Es ist eine wunderbare 352
Sehnsucht, eine Hoffnung und vielleicht auch ein Wissen.
In all dieser Zeit lebte Isami in ihrer eigenen Welt. Nach der Schule saß sie stundenlang in ihrem Zimmer,
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