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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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lange das Paradies der Kindheit. Aber in meiner Erinnerung gibt es eine Art Schleier. Ich war unschuldig, wie ein Kind es sein kann, das von guten Menschen umgeben war. Man hatte das Böse mit behutsamen Händen von mir fern gehalten.
    Wenn ich über mein Leben nachdenke, über die guten und schlechten Tage, merke ich, daß ich nie ein Schiff ohne Ruder war. Auch wenn ich zeitweilig zwischen gefährlichen Klippen trieb, sank ich niemals auf Grund. Ich erlangte früh einen ziemlich starken Grad von Sicherheit.
    Wir kehrten also nach Tokio zurück. Von der Familie lebte nur noch Mayumis Großmutter. Das kleine Haus in Omote Sandô, das einst Kenjis Vater gehört hatte, stand noch. Wir zogen dort ein. Das Haus war beschädigt worden, aber die Großmutter gab Mayumi etwas Geld, und so konnte sie es – wenn auch nur dürftig
    – instand setzen lassen.
    Ich wuchs im Tokio der Nachkriegszeit auf. Mir ging es nicht besser und nicht schlechter als anderen Kindern. Beim Tod der Großmutter erbte Mayumi den bescheidenen Rest ihres Vermögens. Mit dem Geld konnte sie einige Jahre leben und uns großziehen. Ein Beruf kam für sie nicht mehr in Frage. In Tokio herrschten Armut und Arbeitslosigkeit. Außerdem war ihre Gesundheit stark angegriffen. Infolge der Strahlungen litt sie an Leukämie, einer Krankheit, die kaum erforscht war. Aber damals wußte sie es noch nicht. Sie spürte nur, daß das Leben sich langsam aus ihr zurückzog wie der Saft aus einer welkenden Pflanze.
    Zum Sterben brauchte sie sechs Jahre.
    Viele Dinge stehen vor mir, als wären sie gestern gewesen. Nicht nur Schatten, sondern auch Licht. Meine Mutter war eine Gestalt an der Schwelle des Schweigens, die Hüterin eines Geheimnisses. Wir hatten unsere Eltern stets
    ›Maman‹ und ›Papa‹ genannt, auf französisch. Und es war auch Mayumis Art, französische Ausdrücke in ihre japanischen Sätze zu flechten. Das – und ihr ungezwungenes Auftreten – war für manche Leute eine beständige Überraschung und ein Rätsel. Heute weiß ich, es war nicht nur eine Erinnerung aus glücklichen Zeiten; es war eine Beschwörungsformel gegen Tod und Zerstörung, eine Sprache, die sie mit der weiten Welt verband und die dem Gedanken der Freiheit Flügel verlieh.
    Die Fortschritte ihrer Krankheit machten sich nur schubweise bemerkbar.
    Manchmal war sie wochenlang lebhaft, fast wie früher. Hausarbeit hatte sie nie gemocht, und sie tat auch jetzt nur das Nötigste, aber sie pflegte mit Hingabe 350
    unseren kleinen Garten. Oft zeigte sie uns auf der europäischen Landkarte die Orte, die sie besucht hatte, erzählte uns von fremden Städten und Menschen. Ihre Geschichten kamen uns fremdartig und faszinierend vor. Ich entsinne mich an Isami, damals: Sie trug ihre marineblaue Schülerinnenuniform, mit Faltenrock und Matrosenkragen. Ihr Haar, im Halbrund geschnitten, bedeckte die Stirn. Das Gesicht war rund und sehr glatt, der Hals lang und zart. Ich sehe noch, wie sie lauschte, das Kinn in beide Handflächen gestützt, während sich das Lampenlicht in ihren Augen spiegelte. Und noch etwas ist mir stark in Erinnerung geblieben: die Art, wie Mayumi sprach, als sei mein Vater noch am Leben, und zwar in bezug auf ganz alltägliche Dinge. So sagte sie zum Beispiel zu mir: ›Papa will, daß du früher ins Bett gehst…‹, oder zu Isami: ›Papa findet, du solltest den Blumen Wasser geben.‹ Oder: ›Einige Ziegel sitzen locker; Kenji meint, wir müßten den Dachdecker kommen lassen.‹ Sie sprach so unbefangen, daß ich manchmal unwillkürlich über meine Schulter blickte, weil ich das Gefühl hatte, mein Vater stünde irgendwo im Raum. Isami und ich fanden das nicht seltsam. Allerdings änderte sich das schnell, als ich zur Schule ging. ›Mein Vater ist tot, aber meine Mutter redet mit ihm‹, hatte ich den Mitschülern erzählt. Schallendes Gelächter.
    Ein Junge meinte, bei meiner Mutter stimme wohl etwas nicht, worauf ich ihn verprügelte. Seitdem war mir die Sache peinlich, jedesmal, wenn ich mit Schulfreunden nach Hause kam, stand ich tausend Ängste aus. Aber solche Dinge passierten nie in Gegenwart von Fremden; Mayumi überließ sich diesem Zustand der Heimsuchung nur, wenn sie völlig entspannt war.
    Das Tokio der Nachkriegszeit hatte keine Ähnlichkeit mit der Stadt, die du jetzt kennst. Überall wurde planlos und billig gebaut. Alles wirkte düster und grau oder grell und kitschig. Ein paar hohe moderne Gebäude im Zentrum mit Lichtreklamen, einige Tempel und

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