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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Knie. »Er erinnert mich an unseren Garten in Tokio. Er war natürlich viel kleiner. Meine Mutter hatte ihn angelegt. Sie liebte keine Rosen, weil sie Dornen haben. Ihre Lieblingsblumen waren Schwertlilien. In Japan gelten Schwertlilien als Blumen der Gesundheit. Wir hatten weiße und malvenfarbene und solche, die fast schwarz schimmerten. Ein Teil der Seele meiner Mutter war in diesem Garten gefangen, sie schöpfte ihre Kraft aus dem Wachstum der Pflanzen. Doch damals merkte ich das nicht oder nur ganz verschwommen. Und jetzt ist es zu spät. Die Orte meiner Kindheit sind für mich verloren. Ich kehre nie mehr dorthin zurück.«
    »Warum nicht?«
    Er legte den Arm um mich.
    »Ich habe das Haus Midori überlassen. Vor ein paar Jahren erfuhr ich, daß sie es verkauft hat.«
    »Midori?«
    »Meine geschiedene Frau«, sagte er. »Eine Zeitlang hat mich das wütend gemacht. Jetzt sehe ich die Sache anders. Es war wohl besser, sich von allem zu 348
    trennen. Von der Vergangenheit, meine ich. Ich wollte nichts mehr mitschleppen, was mich beschweren konnte. Nur einige Erinnerungen, leicht wie Herbstlaub…«
    Ich hob die Hand, strich zärtlich über seinen Mund.
    »Du hattest ein neues Leben begonnen.«
    »Ja, von Ort zu Ort, hier oder in weiter Ferne. Und selbst wenn ich schlief, war ich stets auf Reisen. Was uns gegeben wurde, können wir nicht zurückhalten. Nur die Erinnerungen, die sind immer da. Aber die Wünsche der Menschen ändern sich. Jetzt möchte ich etwas anderes. Etwas, das durch uns kommt. Und kein Haus, sondern nur das Herz, die Herberge der Sehnsucht.«
    »Wie ging es weiter, damals?« fragte ich.
    Er schmiegte das Gesicht an meine Schulter.
    »Als Kind nahm ich die Ereignisse, wie sie kamen. Wenn mein Fassungsvermögen überfordert wurde, zog ich mich in meine eigene Welt zurück.
    Es war Isami, die meine Erinnerungen später durch ihre eigenen ergänzte. Dem Anschein nach waren alle Schrecken an mir abgeglitten wie Wasser auf dem Gefieder einer Ente. Doch nur dem Anschein nach: Ich hatte sehr eigentümliche Gefühle. Zum Beispiel empfand ich manchmal die Glieder und Teile meines Körpers wie Werkzeuge, und umgekehrt liebte ich die Dinge um mich herum wie meinen eigenen Körper. Stolperte ich an einen Tisch oder einen Stuhl in unserem Haus, entschuldigte ich mich bei ihm. Oder, wenn ich etwas zu greifen versuchte, hielt ich die Hand mit meiner anderen Hand zurück. Logischerweise nahm ich an, daß nicht nur alle Lebewesen, sondern auch alle Pflanzen und Gegenstände gleich empfanden wie ich. Ich hatte nicht das Gefühl, daß ich mehr war als ein Käfer, ein Flaschenkürbis oder ein Gefäß. Zerbrach ich irgendeinen Gegenstand, war ich sehr betroffen und wartete angstvoll auf die ›Substanz‹, die sich zeigen würde. Es bestand ein gemeinsames Gefühl zwischen diesen Dingen und mir. Ich sagte, daß ich von Schaden verschont geblieben war; das, was zurückblieb, wirkte sich auf tieferer Ebene aus. So geschah es oft, daß ich von meinem sterbenden Vater träumte. Ich sah den Eimer voller Blut, die Flecken an den Wänden und auf den Matten. Keine schönen Träume für ein Kind! Ich wachte auf, zitternd und in Schweiß gebadet, und rief nach meiner Mutter. Sie schlief bei uns auf dem Futon; ich fühlte ihre Anwesenheit sogar, wenn ich sie nicht sehen konnte. Sie beugte sich über mich, ihr warmer Atem strich über meine Wange. Sie nahm mich in die Arme, und ich fühlte mich geborgen in ihrer Sanftheit und Stärke. Ihre Hände streichelten mich, ihre Stimme flüsterte beruhigend an meinem Ohr. Ein Gefühl von Frieden durchdrang die Dunkelheit, in der mich kurz zuvor das Gespenst des Bösen heimgesucht hatte. Allmählich wurden diese Träume seltener, und nach ein paar Jahren hörten sie fast ganz auf.
    Mir war aufgefallen, daß meine Mutter ihre schönen Haare verlor. Jeden Morgen fand sie Strähnen auf ihrem Kopfkissen. Manchmal, wenn sie über ihren Kopf strich, sah ich Haare auf ihrer Handfläche liegen. Eine Zeitlang war sogar 349
    eine Kopfseite last weiß. Da aber viele Frauen so aussahen, fiel das nicht weiter auf. Nach einigen Monaten begannen ihre Haare wieder zu wachsen, aber viel feiner und heller als früher. Die Flecken auf ihrer Kopfhaut verschwanden aber nie ganz.
    Ich weiß nicht mehr genau, wann wir nach Tokio zurückkehrten. Es muß damals gewesen sein, als ihre Haare wieder eine normale Länge erreicht hatten.
    Als kleiner Junge hatte ich die Hölle gesehen; und doch bewahrte ich in mir

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