Silbermuschel
schlug Mayumi den kleinen Bronzegong und las mit leiser Stimme die alten buddhistischen Schriften. Wir verneigten uns und beteten, den Verstorbenen zum Gedenken. Von den Gefühlen, die Mayumi tief in ihrem Innersten bewegten, zeigte sie nichts.
In jenem Sommer war es besonders heiß. Der Himmel zeigte sich wochenlang wolkenlos. Der Wind wirbelte die Luft wie aus einem Ofen empor. Klimaanlagen gab es noch nicht. Nachts ließen wir die Amados – die Schiebetüren – offen, um frische Luft zu haben. Schon vor Tagesanbruch gurrten die Wildtauben.
Ein paar Tage nach dem Urabon hatte Mayumi einen Schwächeanfall und stürzte die Treppe hinunter. Aikosan ließ sofort den Krankenwagen kommen.
Meine Mutter wurde ins Krankenhaus eingeliefert, doch schon ein paar Tage später war sie wieder zu Hause. Heute weiß ich, man hatte sie heimgeschickt, weil es zu spät für sie war. Ihre Pupillen waren durch die Medikamente enorm geweitet, sie hatte dunkle Schatten unter den Wangenknochen, und an ihrem Hals schlug der Puls ungleichmäßig und stürmisch. Sie mußte fast den ganzen Tag liegen, doch sie beteuerte immer wieder, sie fühle sich gut, sie würde bald gesund werden. Daß die Worte für sie eine ganz andere Bedeutung haben mochten als für uns, davon hatte ich keine Ahnung.
Mitte September war Jûgoya (Nacht des Fünfzehnten), das Fest des Vollmondes. In jener Nacht stellte Mayumi ein winziges Lacktischchen mit kugelförmigen Opfergaben für den Mondgott auf die Veranda: kleine weiße 354
Reiskuchen, Dango genannt, Kastanien, Erbsen und Zwetschgen und in ihre Mitte zwei runde Sake-Schalen. Alles war so rund wie möglich gehalten, denn das Runde ist das Symbol der Vollkommenheit. Als der Mond aufging, setzten wir uns auf die Veranda. Grillen zirpten, und der betörende Duft der kleinen gelben Heckenblüten, Mokusai genannt, erfüllte den Garten. Der Mond schwebte stolz empor, riesengroß und hell wie Gold, wir waren von seiner Pracht gefangen, Isami rief: »Oh, Maman!
Ich habe ihn noch niemals so schön gesehen. Nun glaube sogar ich an den Mondgeist!« Und Mayumi, an der kaum noch etwas Irdisches haftete, zitierte leise ein Gedicht, das der Einsiedler Saigyo vor neunhundert Jahren geschrieben hatte.
Es ist ein Gedicht, das ich noch heute, über die vielen Jahre hinweg, nicht ohne Schmerzen hören kann:
Keine Seele besucht meine Hütte,
Nur des Mondes befreundetes Licht,
Der über die Wälder hervorspäht.
Eines Tages werde ich
Aus dieser Welt hinscheiden.
Doch ewig verlangt mein Herz
Nach dem Mond, nach dem Mond.
Warum mich dieses Gedicht so traurig stimmt? Es war das letzte Mal, daß Mayumi in ihrem menschlichen Dasein den Vollmond betrachten konnte. Ehe sich der Mond auf seiner Bahn in eine blasse Sichel verwandelte, hatte Mayumi ihr Leben ausgehaucht. Es war zwei Tage später, an einem Dienstag. Ich kam erhitzt und durstig aus der Schule, lief die Steinstufen empor und schleuderte meine Schuhe in eine Ecke, bevor ich in Socken durch den dunklen, etwas schiefen Gang stapfte. Wie jedes japanische Kind rief ich laut: Tadaima! – ich bin zurück –, worauf die Stimme meiner Mutter mich mit der üblichen Willkommensformel O-Kaerinasai – ehrenvolle Rückkehr – von der Veranda her empfing. Diese förmlichen Redewendungen bedeuten nicht viel mehr als ›guten Tag‹. Durch die offene Schiebetür sah ich den Garten, bewachsen mit Zwergkiefern, Buchsbäumchen und Schwertlilien. Der Garten glich einer kühlen, verwunschenen Welt. Im Schatten wuchsen vielerlei Moose, von zartgrau bis smaragdgrün. Die zarte, schmalgliedrige Gestalt meiner Mutter kniete im Schatten der Veranda auf einem Kissen. Sie trug eine Yukata mit blauweißem Blumenmuster und hielt einen runden Papierfächer in der Hand. Ihr weiches, schulterlanges Haar schimmerte golden im Schatten. Sie wandte mir den Kopf zu und lächelte geistesabwesend.
›Da bist du ja, Kenchan. Komm, setz dich zu mir. Wie war’s denn in der Schule?‹
›Ich habe Durst!‹ klagte ich.
›In der Küche gibt es frischen Mugi-Cha‹, sagte sie. ›Und sei so gut und bring 355
mir auch ein Glas.‹
Mugicha ist ein Korntee, der kalt getrunken wird. Er schmeckt etwas bitter und löscht den Durst gut. Ich ging also in die Küche; ein Kühlschrank war damals noch ein unerschwinglicher Luxus. Wie alle Durchschnittsfamilien hatten wir nur einen dicht abgeschlossenen Holzschrank; im oberen Fach lag ein Eisblock, der die Eßwaren kühl hielt. Fast täglich schob der
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