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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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malte und schrieb. Ich sah geringschätzig darüber hinweg. In meinen Augen waren das keine Beschäftigungen für einen Jungen. Mit siebzehn veröffentlichte Isami ihr erstes Kinderbuch. Meine Mutter hatte das Manuskript zu einer Journalistin der Asahi Shimbim geschickt. Diese hatte sich mit einem Verlag in Verbindung gesetzt, der das Buch herausgab. Die Geschichte hieß
    ›Der Mondgeist‹. Sie erzählte von einem kranken Mädchen, das mit dem Mond sprach. Der Mondgeist kam nachts in ihr Zimmer und erzählte ihr, daß er sie bald holen werde. In der Nacht, als das Mädchen im Sterben lag, trat der Geist in Gestalt eines schönen Jünglings an ihr Bett. Er reichte ihr die Hand, und beide schwebten hinaus in den Nachthimmel.
    Isami hatte das Buch illustriert: schwarzweiße Gouachemalerei voller Hintergründigkeit und Poesie. Das Buch wurde ein Erfolg. Über Isami wurde in den Zeitungen berichtet. Sie wurde im Radio und im damals aufkommenden Fernsehen interviewt. Die erste Galerie, die nach Kriegsende in Tokio eröffnet worden war, stellte ihre Bilder aus. Vertreter von Presse und Rundfunk nahmen an der Vernissage teil. Gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen, war ich auf Isami eifersüchtig und benahm mich entsprechend ungehobelt.
    Mayumi ahnte, daß Isami, so jung wie sie war, ihren Weg bereits kannte. Von jener Zeit an setzte sie der Krankheit kaum noch Widerstand entgegen. In den letzten Jahren war sie immer mehr zur japanischen Lebensart zurückgekehrt. Sie kleidete sich wieder in Kimonos, las Gedichte und Erzählungen klassischer Autoren. Es waren alte Bücher aus zähem Japanpapier, mit Seidenschnüren zusammengebunden, die noch aus dem Nachlaß der Großmutter stammten. Sie brachte Isami die Kunst des Schönschreibens bei, die seit Kriegsende in den Schulen nicht mehr zu den Pflichtfächern gehörte. Geduldig lehrte sie Isami, die Pinselführung in Einklang mit dem Atemrhythmus zu bringen. Auch griff Mayumi einige alte Bräuche wieder auf, denen sie früher kaum Beachtung geschenkt hatte.
    Am Vorabend des 4. Februar feierten wir Setsnbun, den Wendepunkt des Frühlings, wobei wir kleine geröstete Erbsen über die Matten hinweg und in den Garten springen ließen, um die Wintergeister zu verscheuchen. Sobald die Kirschbäume in Blüte standen, ging Mayumi mit uns zum Hanami (Blütenanschauen) in die Parkanlagen. Vor dem Urabon, dem ›Willkommensfest für die zurückgekehrten Seelen‹ im August, das drei Tage dauerte, war Großreinemachen. Im letzten Jahr war Mayumi schon zu schwach, um sich an der Hausarbeit zu beteiligen, aber Isami und ich halfen Aikosan, das ganze Haus mit dampfend heißen Tüchern zu waschen, die Trittsteine im Garten abzuwischen und die Fußbodenmatten mit Bambusklopfern zu entstauben. Dann setzten wir uns zu Mayumi auf die Veranda und begannen unter ihrer Anleitung, kleine Tiere aus Gemüse zu schnitzen: Aus einer krummhalsigen Gurke machten wir ein Pferd, 353
    indem wir seidige Maisfasern für die Mähne und den Schweif nahmen und Hanfstengel für die kleinen, steifen Beine. Aus einer Eierpflanze wurde ein Rind mit Hörnern, und aus Somen – einer Art Nudeln – formten Mayumis geschickte Hände Geschirre für die Tierchen. Die Figuren wurden dann in den Altarschrein gestellt. Mayumi kannte die Bedeutung dieses uralten Brauches nicht. Erst viele Jahre danach, in Europa, wurde mir klar, wie dort archaische Kulte mitspielten, die das Pferd und das Rind mit den Todes- und Fruchtbarkeitsriten zur Sommersonnenwende in Verbindung brachten. Die gleichen Symbole von Liebe, Tod und Wiedergeburt gehören zu den antiken Formen des menschlichen Daseins, über Meere und Kontinente verbreitet. Sie sind das Dauerhafte im Wandel der Geschichte und unser gemeinsames Erbe. Aber das erfuhr ich erst später.
    Der Altarschrein darf in keinem japanischen Haus fehlen. Der unsrige war aus Mahagoniholz und stand auf einem Spitzendeckchen auf einer Kommode. Unter dem kleinen Bronzebuddha und der Ewigen Lampe aus durchbrochener Messingarbeit standen die Fotos der Großeltern und meines Vaters in versilberten Rahmen. Der Schrein enthielt auch die Täfelchen mit den Totennamen in der Sanskritsprache. Denn wie es Brauch war, hatten die Verstorbenen, die in ein anderes Leben eingingen, auch einen neuen Namen erhalten. Am Urabon -Fest schmückte Mayumi den Altarschrein mit Blumen. Wir ließen die Kerzen in den silbernen Leuchtern brennen, zündeten die Öllampe an. Während der Geruch des Weihrauchs die Luft erfüllte,

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