Silbermuschel
Eisverkäufer einen Wagen durch die Straßen, auf dem die Eisblöcke, in Stroh verpackt, lagen. Er sägte ein Stück Eis nach Angaben der Hausfrau ab, packte anschließend den Block mit einem Greifhaken und trug ihn in die Küche.
Ich holte die Flasche Tee aus dem Schrank, trank ein ganzes Glas aus und füllte ein zweites für meine Mutter. Dann stellte ich das Glas auf ein Tablett und trug es hinaus. Als ich auf die Veranda trat, sah ich meine Mutter am Boden liegen. Sie war völlig weiß im Gesicht, ihr Leib war gekrümmt wie ein Bogen, sie keuchte und zuckte. Ich war so erschrocken, daß ich das Tablett mitsamt dem Glas fallen ließ.
Das Glas zerbrach nicht, weil es auf eine weiche Matte fiel, nur der Tee bildete eine kleine Lache. Meine Mutter stemmte eine Hand auf den Boden, versuchte, sich aufzurichten. Die andere streckte sie nach mir aus. Ihr Atem rasselte. Ihr Gesicht war seltsam verzerrt, ganz fahl um den bläulichen Mund, die weit aufgerissenen Augen starrten mich an und sahen gleichzeitig durch mich hindurch.
Ihr Blick, leicht hin und her schwankend, schien auf einen Punkt im Nichts gerichtet zu sein. Ich stand da, vor Schrecken gelähmt. Wir hatten kein Telefon, Isami war noch in der Schule. Ich schrie, daß ich Aikosan holen würde. Doch sie schüttelte heftig den Kopf. Keuchende Atemstöße hoben und senkten ihre Brust, während ihre Hand nach mir griff. Halb von Sinnen fiel ich neben ihr auf die Knie, packte ihre Hand. Sie drückte meine Hand, daß es schmerzte. Plötzlich öffnete sie die Lippen. Ein rauhes Stöhnen, dann schrie sie ganz laut: ›Kenji!‹ Blut flöß aus ihrem Mund, stoßweise, in dünnen Fäden, und färbte ihre Yukata dunkelrot. Ihre Finger lösten sich aus meiner Hand, sie seufzte schwer und sank zurück auf den Boden. Ich beugte mich über sie, keuchend vor Entsetzen, meinte in ihren Augen noch einen Funken Leben zu sehen. Doch als ihr Kopf seitwärts fiel, war auch dieser Funke erloschen. Und nach einer Weile hörte das Blut auf zu fließen.
Ich zitterte so stark, daß meine Zähne aufeinanderschlugen. Mir wurde schwindlig, vor meinen Augen wirbelten schwarze Flecken. Von dem, was folgte, ist mir kaum noch etwas in Erinnerung. Irgendwann sah ich Aikosan neben meiner Mutter knien. Ich nehme an, daß ich sie geholt hatte. Aikosan legte Mayumi die Hand auf die Brust, um den Herzschlag zu spüren. Ich wußte, daß man Toten die Augen zudrücken muß. Ich hatte es nicht getan, weil ich nicht glauben konnte, daß meine Mutter nicht mehr lebte. Und bisher hatte ich auch nicht weinen können.
Erst als die Nachbarin ihr behutsam die Lider schloß, spürte ich die Tränen hochsteigen. Meine Mutter! Ich brauchte sie so nötig. Und jetzt lag sie hier, in ihrer blutbefleckten Yukata, und ließ mich für immer allein.
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Und dann kam Isami und legte den Arm um mich; wir umklammerten uns und schluchzten: zwei einsame Kinder, die um ihre Mutter weinten.
Der Arzt sagte später, ihr Herz habe versagt. Es mußte an der Hitze gelegen haben, daß es so plötzlich geschah. Aikosan und Isami kümmerten sich um alles.
Drei Tage später fand die Einäscherung statt. Und an jenem Tag sah ich zum erstenmal an Isamis Handgelenk die Uhr, deren Zeiger stehengeblieben waren, als die Bombe fiel, und die meine Mutter stets getragen hatte. Nach der Einäscherung oblag Isami und mir die Pflicht, mit zwei besonderen Stäbchen die Knochenreste meiner Mutter aus der Asche herauszunehmen. Die Asche kam in eine Urne, die später in unserem Familiengrab beigesetzt wurde. Und ein neues Täfelchen würde in den Altarschrein gelegt, vor den Isami nun jeden Morgen ein Schälchen mit Reis stellte.
Ich beschreibe diese Bilder, so wie sie kommen, sie gehören zu meinem Leben.
Ich bin die Summe all dieser Erlebnisse, ich trage diese Bürde der Erinnerungen mit mir herum.
Mit achtzehn Jahren beendete Isami ihre Schulzeit und übernahm für mich die Rolle der Mutter. Es war keine leichte Aufgabe. Überdies war ich kein Kind, das man unbesorgt sich selbst überlassen konnte. Ich war ichbezogen, impulsiv und vorlaut. Wenn man dem Einhalt gebieten wollte, so mußte es früh geschehen.
Isami versuchte nicht, meine unbesonnenen Handlungen zurückzuhalten; und so tat ich ungehindert vieles, das nach den damals noch herrschenden japanischen Sitten schroff und unhöflich war.
Vom Geld der Großmutter war kaum noch etwas übrig. Isami hatte die höhere Schule besucht, war jedoch ohne Universitätsabschluß in ihrer
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