Silbermuschel
paar schwere Tage, weil ich mir seit Jahren das Kettenrauchen angewöhnt hatte. Zwanzigmal am Tag tasteten meine Hände unwillkürlich nach Streichholz und Zigarette. Schließlich stellte ich fest, daß ich mich mit Kaugummi ablenken konnte, und kehrte zu den Gewohnheiten meiner Studentenzeit zurück. Auch Midori besuchte sie ein paarmal und brachte manchmal Norio mit, aber als sich Isamis Zustand verschlechterte, kam sie nicht mehr.
Es ging alles eigentlich sehr schnell; Anfang Oktober wurde sie immer stiller, als ob die feinen Fäden, die sie mit dem Leben verbanden, sich einer nach dem anderen lockerten und rissen. Sie wurde immer bleicher, immer dünner. Sie bekam Sondernahrung, und die Ärzte unterzogen sie verschiedenartigen Therapien. Ich hatte mir alles erklären lassen und wußte, wie schmerzhaft das war. Manchmal schien das Ergebnis der Therapien vielversprechend, doch nach einigen Tagen trat wieder ein Rückfall ein. Bald hatte sie kaum noch die Kraft, ihr Bett zu verlassen.
Sie sprach immer weniger, hörte nur zu und lächelte abwesend. Oft, wenn ich kam, lag sie ganz ruhig und starrte mit offenen Augen ins Leere. Den Fernseher hatte sie meistens ausgeschaltet. Allmählich hatte ich das Gefühl, daß auch das Zuhören ihr immer größere Mühe bereitete. Sie lächelte mir zu, wenn ich zu ihr ans Bett trat, und streckte nur wortlos die Hand nach mir aus. Ich sagte: ›Wie geht es dir?‹ und ähnliche Gemeinplätze, und nach einer Weile sagte ich gar nichts mehr und saß einfach nur da. Die Krankenschwester vertraute mir an, daß sie starke Schmerzen habe. Sie bekam Infusionen, zuerst in die Arme; dann, als die Arme zu geschwollen und zerstochen waren, in die Fußvenen. Ich erfuhr, daß die Infusionen am Fuß schmerzhafter waren als am Arm. Ich hielt ihre Hand und streichelte sie, wenn die Schwester die Infusion einführte, aber oft kam ich erst abends, und sie hatte schon vier oder fünf Infusionen gehabt. Die Fortschritte der Krankheit in 408
ihrem Körper waren immer deutlicher sichtbar: Sie war immer schon dünn gewesen, jetzt wurde sie mager. Ihre Gelenke verkrümmten; sie verlor ihr Haar, wie damals meine Mutter. Ihre Augen lagen in dunklen Höhlen, ihre Haut fühlte sich heiß und trocken an. Wenn ich glaubte, daß es ihr besonders schlecht ging, verließ ich das Büro früher und blieb abends so lange bei ihr, bis die Schmerzmittel wirkten und sie endlich einschlafen konnte.
Das Versäumte holte ich dann am nächsten Morgen mit Überstunden nach.
Natürlich zerrte die Doppelbelastung an meinen Kräften. Es gab Augenblicke, da war ich so müde, daß ich nur mit Hilfe von Aufputschmitteln über die Runden kam. Ich wurde reizbar und nervös. Midori machte mir Vorwürfe, distanziert und mit großer Höflichkeit. Sie bedauerte meine Schwester zutiefst, war jedoch so dreist, sich zu fragen, ob es richtig sei, daß ich die ganze Zeit bei ihr verbringe. Ich könne ihr ja doch nicht helfen und sei dem Pflegepersonal nur im Weg. Und ob ich denn kein Vertrauen in die Ärzte hätte? Sie sprach so ruhig und vernünftig, daß ich genau hinhören mußte, um jene Dinge zu erfassen, die sie mir nicht ins Gesicht zu sagen wagte. Ich war kein Analytiker, aber ich hatte Instinkt: Ich brauchte nur in ihre Augen zu sehen und kannte sie und ihr ungetrübtes Gewissen. Offenbar hatte sie ihre Mutter ins Vertrauen gezogen, die in letzter Zeit sehr frostig zu mir war.
Isamis Krankheit, dessen Ursache sie nun kannten, war den Schwiegereltern peinlich. Widerwille und gekränkte Überheblichkeit also, beides aber äußerst taktvoll vertuscht; aus dieser Abneigung viel Aufhebens zu machen hieß stillschweigend andeuten, daß Midori eine Mißheirat eingegangen war. Ich hatte wenig Sinn für elegante Floskeln. Kurzum, ein Wort ergab das andere, ich war mit meinen Nerven am Ende und schrie Midori an, wenn ich ihr nicht passe, solle sie doch die Scheidung einreichen. Sie brach in Tränen aus, lief die Treppe hinauf und schloß sich im Schlafzimmer ein. Die folgende Nacht verbrachte ich auf der Couch, wälzte mich stundenlang hin und her und ging am nächsten Tag verschlafen ins Büro. Unweit der Klinik hatte ich eine kleine Pension entdeckt; dort bezog ich ein Zimmer, was mir die lange Reise mit der U-Bahn ersparte. Und außerdem gab es da einen Futon, auf dem ich mich ausstrecken konnte. Isami ging es nicht gut. Ihre Knochen wurden immer poröser. Die Infusionen halfen kaum noch; sie hatte ununterbrochen Schmerzen. Wenn sie
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