Silbermuschel
still lag und ruhig atmete, ging es, aber manchmal schlief sie nächtelang nicht. Ich gab ihr zu trinken, wusch sie, hielt die Schüssel, wenn sie sich übergab, und lernte auch, ihr die Infusion zu erneuern. Die Nachtschwester war froh, daß ich sie entlastete, doch es wurde immer schlimmer. Ich fragte den Arzt, ob er ihr nichts Stärkeres geben könne, wegen der Schmerzen. Der Arzt sagte, es gäbe nur noch Morphium. Schließlich wurden die Schmerzen so arg, daß sie laut schrie und ich nichts tun konnte, als ihre fieberheiße Hand zu halten. Daneben gab es wieder Augenblicke, da schlief sie ruhig. Dann erwachte sie plötzlich, sah mich an ihrem Bett sitzen und deutete ein Lächeln an.
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›Sitzt du wieder da und grübelst?‹
Ich sagte nein, ich hätte nur etwas geschlafen, das könne man ganz gut im Sitzen.
›Und morgen schläfst du im Stehen ein‹, sagte sie. ›Und deine Arbeit?‹
›Kein Problem. Ich hole alles nach.‹
Doch die Augenblicke, in denen sie bei Bewußtsein war, wurden immer seltener. Ihr Atem ging röchelnd, mit leisem Pfeifton. Der Arzt sprach offen zu mir und sagte, daß es nur noch kurze Zeit dauern würde. In der Firma wußte inzwischen jeder, daß man mir am besten aus dem Weg ging. Pflichtbewußt rief ich täglich bei Midori an. Nach unserem Krach hatten wir uns wieder versöhnt, aber der Faden zwischen uns hing locker. Hatte ich jemals geglaubt, verliebt zu sein? Jetzt war ich mürbe genug, um einzusehen, daß der Faden von Anfang an hauchdünn gewesen war. Eine Zeitlang hatte ich mir gewisse Dinge eingeredet, hatte verschnörkelte Vorstellungen über Ehe, Familie und Beruf mit mir herumgeschleppt. Aber Isami starb, und meine Welt rutschte unaufhaltsam einem Chaos entgegen.
Ich brachte Isami Ahornblätter aus unserem Garten mit, die ersten reifen Kaki und weiße Astern, noch kühl und glitzernd vom Tau. Sie lächelte mir dankend zu; doch ihr Sehvermögen ließ nach. Sie sah alle Dinge nur verschwommen. Dafür hörte sie alle möglichen Geräusche: das Schleifen des Aufzugs, das Lärmen irgendwelcher Rohre. Sie sagte, es sei ohrenbetäubend, sie könne wegen dieser Geräusche nicht schlafen, sie drängten sich bis in die Träume hinein mit ihrem Klopfen, wie das Pendel einer Riesenuhr, das hin und her schlug, rastlos und bis in alle Ewigkeit. Ich aber saß neben ihr und hörte nichts, kein Ticken und kein Geräusch. Um sie zu beruhigen, erzählte ich ihr von den Bildern, die sie gemalt hatte. Ich sprach zu ihr, als käme ich gerade von einer Reise zurück und hätte diese Landschaften mit eigenen Augen gesehen. Ich beschrieb ihr ein altes Dorf in einem Maulbeerhain, schwimmende Reismühlen mit ihren kreisenden Schaufelrädern in einem Strom, den Ashinoko-See im roten Abendnebel. Sie sagte, wie schön, Kenchan, erzähl mir noch mehr davon, bitte, sprich weiter. Wenn ich dir zuhöre, tut alles weniger weh. Nach einer Weile wurde ihr selbst das Zuhören zuviel, sie schloß die Augen, dämmerte in Fieberträumen dahin. Trotz des Morphiums schien sie starke Schmerzen zu haben; oft zuckte sie zusammen, biß sich die Lippen wund und klammerte sich an meine Hand wie an den einzigen Halt in ihrer Not. Am nächsten Tag war mein Handrücken noch blau und geschwollen. Und ich ertappte mich dabei, die Stunden zu zählen und die Augenblicke der endlosen Zeit, die sie noch brauchen würde, um nicht mehr zu leiden. Schließlich glaubte sie, daß sie ein kleines Kind sei. Sie rief nach unserer Mutter, und ich sagte, ja, ich bin da. Sie sagte, wie gut, daß du gekommen bist, Maman, ich habe solche Schmerzen! Und ich streichelte sie und sagte, warte nur noch einen kleinen Augenblick, die Infusion wirkt ja schon, und gleich fühlst du dich besser. Ich nahm sie nicht in die Arme, 410
weil sie kaum noch duldete, daß man sie anfaßte. Wenn die Schmerzen unerträglich wurden, hielt ich ganz behutsam ihre Hand, bis der Anfall vorüber war. Dann öffneten sich ihre Augen, blickten mich stumpf an. Sie stöhnte leise.
›Hilf mir! Laß mich nicht allein!‹
Und ich sagte zu ihr: ›Du kannst ganz beruhigt sein, ich bin ja da.‹
›Auch nachts? Nachts ist es am schlimmsten‹.
›Ja, auch nachts.‹
Am Abend bevor sie starb, lag sie vollkommen still, die Augen geschlossen.
Ich hatte das Gefühl, daß ihr abgezehrter Körper nur noch mit dem Dehnen und Einziehen der Rippen beschäftigt war, einer Aufgabe, die er mit letzter Anstrengung bewältigte. Um zehn kam die Nachtschwester und gab ihr das
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