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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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aus schmerzenden Augenhöhlen auf Dinge, die ich kaum wahrnahm. Das Neonlicht, mit den Rauchschwaden aus sämtlichen Zigaretten vermischt, hüllte den Konferenztisch mitsamt allen Teilnehmern in Nebel.
    Es dunkelte bereits, als ich endlich aus dem Büro kam. Draußen schlug mir der Verkehrslärm entgegen. Kein Windhauch bewegte die schwüle Luft. Ich ging über die Straße, lief die Treppe zur Station hinunter. Menschen strömten an mir vorbei.
    Im Abstand von zwei Minuten donnerten die vollbesetzten Züge die Bahnsteige entlang. Endlich erreichte ich Omote Sandô. Der Schmerz pochte in beiden Stirnhälften, mein ganzer Körper fühlte sich klamm an. Ich stieg die zwei Steinstufen empor und klingelte. Isami öffnete. Sie trug schwarze Hosen und eine Strickjacke. Ihre Brille hing an einer Kette über ihrer hellen Bluse. Ihre Füße steckten in weißen Socken. Sie stand vor mir, kleiner als ich, doch sie hielt sich so 403
    aufrecht, daß sie auf ganz eigentümliche Weise groß und gebieterisch wirkte. Ihr fülliges Haar war aus der Stirn gekämmt und mit einem roten Band im Nacken festgebunden. Sie erwiderte meinen Gruß mit knapper Kopfneigung, während ich meine Schuhe von den Füßen beförderte.
    ›Ich dachte schon, du würdest heute nicht kommen.‹
    ›Erwartest du, daß ich dir das glaube?‹
    ›Wie war’s denn im Büro?‹
    ›Terrible‹, gab ich auf französisch zurück.
    Es war düster im Gang, aber ich konnte sehen, daß sie lächelte.
    ›Du bist wirklich nicht dafür gemacht‹.
    Hinter dem Reispapier brannte Licht. Ich trat ins Wohnzimmer, während Isami sich in der Küche zu schaffen machte. Ich setzte mich vor den niedrigen Tisch aus Teakholz, während meine Blicke umherwanderten. Im Lauf der Jahre hatte Isami das Haus nach ihrem Geschmack eingerichtet. Alle Zimmer waren durch Schiebetüren getrennt. Das sanfte Licht einer Stehlampe beleuchtete die cremefarbenen, brokatgeränderten Strohmatten. Isamis Schreibtisch, mit Büchern und Federschalen belegt, war so gestellt, daß sie in den kleinen Garten sehen konnte. Daneben gab es ein Buffet und eine Vitrine für unsere Puppensammlung.
    Die Puppen stammten noch aus dem Nachlaß der Großmutter. Ihre Gesichter aus Pappmache zeigten kaum noch Farbe, die Seiden und Brokatgewänder waren verblichen. Doch sie gehörten zu den wenigen Familienschätzen, die den Krieg überstanden hatten. In der Tokonoma, der Bildnische, die in keinem traditionellen Haus fehlen darf, hing zwischen spiegelblank polierten Holzpfeilern ein Rollbild mit einer Kalligraphie.
    Das dargestellte Schriftzeichen Mu war fast ein Meter hoch und trug die Handschrift eines berühmten Meisters. Mu bedeutet Leere und gleichzeitig ›Alles was ist‹, das Universum also, in dem sich das Unendliche und das Wesenlose zu Energie verdichten. Aus der Kalligraphie strömte eine Kraft, die mir unter die Haut ging: als ob dieser einzige wirbelnde Pinselstrich die kosmischen Mächte in Bewegung setzte. Vor meinen Augen wurde das Tuschbild zum Chaos, flirrend und drehend und bereit, sich aus dem Rollbild zu lösen. Ich sah zu Isami hinüber, die mit einem Lacktablett aus der Küche kam. Sie ging sehr langsam, als ob ihr die Beine weh täten. Grüner Tee dampfte in zwei purpurnen Keramikschalen. Sie stellte die Schalen auf den Tisch, brachte einen Aschenbecher und kniete dann auf einem Kissen mir gegenüber. Die Bewegung wirkte anders als sonst, steif und schwerfällig. Ihr Gesicht erschien voll im Licht. Ich spürte einen plötzlichen Schauer. Ihre Wangen unter den Backenknochen waren eingesunken, die Lippen blaß und ihre Augen von einer Klarheit, die sie fast durchsichtig schimmern ließ.
    Obwohl ich ahnte, daß sie krank war, verzögerte ihre Eleganz – so wie sie vor mir kniete, die Hände gefaltet, und mich ruhig anblickte – das aufkommende Entsetzen für ein paar Augenblicke.
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    ›O-Neesan, sag mir bitte, was mit dir los ist.‹
    ›Wir sind uns zu nahe‹, erwiderte sie. ›Das ist nicht mehr zu ändern.‹
    Die Kopfschmerzen raubten mir fast den Verstand. Ich sagte:
    ›Ich vermute, daß ich niemals zu etwas taugen werde. Aber ich bin nicht beschränkt. Du warst beim Arzt, nicht wahr?‹
    Sie nippte an ihrem Tee und erzählte. Ihre Stimme klang absolut sachlich. Sie war körperlich nie sehr stark gewesen, und die Kriegsentbehrungen hatten ihre Gesundheit geschwächt. Sie litt unter Blutarmut, fühlte sich oft schlapp und müde, und ihr chronischer Husten konnte nie richtig auskuriert

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