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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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damals – vor langer Zeit – mit ihrem kleinen Bruder auf demselben Kissen saß und den Geschichten einer schönen jungen Frau lauschte, die so gut von fernen Ländern und fremden Menschen zu erzählen wußte. Über die Jahre hinweg blickte dieses Mädchen mich an und sang ein Lied von früher, eine einfache Melodie, das die Landkinder in Hiroshima einst sangen, in Dörfern, von denen nichts mehr übriggeblieben war als ein paar vom Feuer geschwärzte Steine, bevor Teermaschinen und Bagger die Vergangenheit für immer unter Asphalt und Beton in den Boden stampften.
    Suchst du deine Mutter.
    Sie floh in den Wald.
    Sie ging über den Fluß.
    Weinst du um deine Mutter.
    412
    Dann suche die Füchsin.
    Das Lied bezieht sich auf eine Sage, in der ein Prinz im Wald ein wunderschönes Mädchen vor dem Ertrinken rettet. Er nimmt das Mädchen auf sein Schloß, und ein Sohn kommt zur Welt. Doch sieben Jahre später wird der junge Prinz Zeuge, wie sich seine Frau vor dem Spiegel in eine Füchsin verwandelt. Als sie sich entdeckt sieht, verschwindet sie in den Wald, indem sie ihrem Sohn ein Abschiedsgedicht hinterläßt.
    Dieses Lied sang Isami nun: Die Melodie erklang rein und klar in der Stille.
    Meine Kehle war voller Tränen, doch ich weinte nicht, weil ich es Isami versprochen hatte. Wie der Schatten eines Traumes war ihr Leben zerronnen, und doch hatte sie etwas bewirkt, weil sie es wollte. Sie hatte das Gute zum Leben erweckt, und nun lächelte sie mich an, ihre Pupillen glänzten im Licht der kleinen Lampe, und ihre Haut war weiß wie geglättetes Elfenbein. Ich wagte sie nicht zu berühren, aus lauter Angst, sie aus dieser Verzückung, in der sie glücklich war, zu wecken. Doch sie war es, die tastend nach meiner Hand faßte. Ihre Finger schlossen sich um die meinen. Und dann sagte sie:
    ›Bist du noch da, Kenchan?‹
    Ich nickte, drückte behutsam ihre Hand. Ich brachte kein Wort über die Lippen.
    ›Es ist schön‹, flüsterte sie und lächelte. ›Ich habe keine Schmerzen mehr.‹
    Ihr Atem ging so ruhig, daß ich ihn kaum noch hörte. Jetzt war es unverkennbar, daß sie starb. Ich hielt ihre Hand und streichelte sie. Nach einer Weile hob sie die Lider, ihre Augen wanderten umher.
    ›Meine Uhr, wo ist sie?‹
    Sie lag auf dem Nachttisch. Es war die Uhr, die Mayumi getragen hatte; jene Uhr, deren Zeiger um acht Uhr fünfzehn stehengeblieben waren.
    ›Sie gehört jetzt dir‹, sagte Isami. ›Trag du sie.‹
    Ich nahm meine eigene Uhr ab; legte die alte goldene Uhr um mein Handgelenk. Das Armband war zu eng; ich würde es wohl um ein Loch erweitern müssen. Isami nickte leicht und schloß die Augen. Das Lächeln auf ihrem Antlitz ähnelte dem, was man zuweilen auf den Gesichtern schlummernder Kinder bemerkt: ein ganz in sich geschlossenes und behütetes, nur ganz zart angedeutetes Lächeln, das ihre Züge wie von innen her verklärte. Dann hob sie die Augenlider, bezog mich in ihr Lächeln ein. Ich hielt ihre dünne Hand umfaßt und fühlte diese Hand erkalten, als zöge sich das Blut aus den Fingerspitzen zurück. Der lichte Augenblick war vorbei; sie keuchte, ihre Pupillen schwankten hin und her, und an ihrem Mundwinkel erschien eine Schaumblase. Plötzlich hob sie den Kopf und sah aufwärts, doch ich war nicht sicher, ob sie mich noch sah.
    Ein Krampf schüttelte sie. Das Licht in ihrem Antlitz flackerte ein letztes Mal auf und erlosch. Ihr Kopf sank zurück, ihre Augen verloren sich in die Ferne. Eine Weile lag sie ruhig, dann öffneten sich ihre Lippen wieder, doch nur für den 413
    Todesseufzer. Ich fühlte, wie ihre Seele einen Augenblick hinter dem brechenden Atem stockte und sich dann meiner Wahrnehmung entzog. Es war vorbei. Ihre Seele hatte die Trennwand durchbrochen, das Land hinter den Wolken betreten.
    Ihre Hand entglitt mir, und ich blieb allein.
    Ich weiß nicht, wie lange ich still neben ihrem Bett saß, den Blick auf ihr Antlitz gerichtet. An einem bestimmten Punkt hatte ich jedes Zeitgefühl verloren.
    Irgendwann drückte ich ihr behutsam die Augen zu und klingelte nach der Nachtschwester. Sie sagte, sie würde tun, was nötig sei, und ich solle jetzt ausruhen. Ich nahm meine Jacke von der Stuhllehne, warf sie über meine Schulter.
    Ich trat aus dem Zimmer hinaus in den spärlich beleuchteten Gang, ließ den Aufzug kommen und fuhr nach unten in die Halle. In der Rezeption brannte Licht.
    Die Nachtschwester und der Wachmann unterhielten sich leise; sie verbeugten sich, als ich vorbeikam. Der

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