Silbermuschel
Schmerzmittel. Ich ordnete die Decken um Isami herum, schüttelte das Kissen auf.
Isami stöhnte, als ich sie so sachte wie möglich aufrichtete. Jede Berührung war schmerzhaft für sie, ihre Knochen waren so extrem empfindlich geworden, von den Handgelenken über die Ellbogen bis hinauf zu den Schultern. Ich fühlte das hohe Fieber durch ihre Haut und legte sie behutsam wieder zurück.
›Es dauert immer etwas, bis das Schmerzmittel wirkt‹, sagte die Nachtschwester. ›Ich glaube, daß sie bald schlafen wird. Wenn etwas ist, rufen Sie mich.‹
Ich bat sie, mir Kaffee zu bringen. Ich hatte seit zwei Nächten nicht geschlafen.
Mein Kopf, meine Glieder waren bleischwer. Am nächsten Tag um halb neun hatte ich eine Besprechung mit dem Firmenboß, seinem Chefberater, dem amerikanischen Geschäftsführer unserer Niederlassung in Boston, und dem Vertreter eines Marktforschungsinstituts. Anschließend war ein Arbeitsessen geplant. Ich hatte vorgehabt, die Unterlagen zu studieren, während Isami ruhte, aber daraus wurde nichts. Meine Augenhöhlen schmerzten, ich kämpfte matt gegen die Traumfetzen, die sich immer wieder auf mich legten. Statistiken, Zahlen, Diagramme, Importraten, Zolltarife. Schon möglich, daß diese Dinge etwas zu bedeuten hatten, aber zur Zeit ergaben sie für mich keinen Sinn. Das stumpfe Gefühl wuchs, je mehr der Schlafmangel zu einem erschöpften Nichtaufwachenkönnen führte. Das Leben lag für mich hinter einer Wand, hauchdünn und durchsichtig wie eine Seifenblase. Mein eigenes Leben war hier, in diesem Zimmer, bei Isami. Bald war sie frei, erlöst für immer. Mich jedoch ließ sie allein. Doch Isami hatte keinen Menschen mehr außer mir, der sie beruhigen und trösten konnte. Ich mußte meine Panik unterdrücken, sie hinwegführen durch Wolken und Nebel zur anderen Seite des Himmels. Es war eine Aufgabe, der ich kaum gewachsen war, die über meine Kräfte ging. Aber es half alles nichts, ich mußte durchhalten. Und dabei spielte es keine Rolle, ob ich müde war oder verzweifelt, ob mein Gehirn kaum noch denken konnte und ich längst nicht mehr wußte, ob ich wachte oder träumte. Etwas war außerhalb von mir, beobachtete ruhig und mit klarem Verstand, was in mir vorging; etwas, das mir zuflüsterte: 411
Hier ist ein Ort der Prüfung. Tu es aus Liebe, und alles wird gut.
Die Schwester brachte mir Kaffee. Ich trank ihn in kleinen Schlucken. Alles war still im Raum. Alles, außer Isamis stockenden Atemzügen. Der Kaffee putschte mich etwas auf, aber nur für kurze Zeit. Mir war vor Müdigkeit übel. Ich stützte den Kopf auf, rieb mir die Stirn. Der Stuhl war hart und unbequem; ich sehnte mich danach, mich hinzulegen, zu schlafen. Ich sah auf meine Uhr.
Mitternacht, dann halb eins. Kurz vor eins kam die Nachtschwester. Wir nickten uns zu. Das Schlafmittel wirkte. Isami lag ganz ruhig da; ihre Haut aus weißem Pergament umhüllte ihre Knochen, dünn wie die eines Kindes. Die Schwester zog sich zurück, schloß lautlos die Tür hinter sich. Ich ging ein paar Schritte auf und ab, machte einige Übungen, um meine steifen Muskeln zu lockern. Dann setzte ich mich wieder; alles im Zimmer war verschwommen. Ich sah die Lampe, das Bett, die weißen Wände, und doch sah ich sie nicht. Das einzig Wirkliche war Isamis röchelnder Atem. Ich fühlte, wie mein Kopf auf den Schultern hin und her schwankte. Matt kämpfte ich gegen die Erschöpfung an. In diesen dunklen Stunden vor Tagesanbruch, wenn Kranke in trostloser Einsamkeit sterben, mußte ich bei Isami wachen, bereit sein, ihre Hand zu halten, wenn sie Schmerzen hatte. Doch schon sanken meine Lider immer wieder über die Augen. Schon umfingen mich die Stromschnellen des Schlafes, doch da, an ihrer Schwelle, rief mich eine Stimme zurück. Ich hob den Kopf in einer Wolke halber Bewußtlosigkeit und wurde plötzlich hellwach. Ich hörte nur noch diese Stimme. Sanft, heiter und klar: die Stimme Isamis. Eine so kindliche Fröhlichkeit lag in ihr und so viel unbeschwertes Glück, daß ich in meiner Benommenheit noch glaubte, zu träumen.
Ich schreckte hoch, mit fliegendem Atem, und beugte mich über ihr Bett. Und was ich sah, nahm mir den Atem. Isamis Augen waren weit geöffnet und schauten mich strahlend, voller Frieden, voller Sanftmut an. Und ihre ausgetrockneten, verkrusteten Lippen drückten durch den leisen Anflug eines Lächelns so viel Dankbarkeit, Zuneigung und Glück aus, daß ich darin den Ausdruck des Mädchens von früher entdeckte, das
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