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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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brandeten durch meinen Kopf wie Wellen, steigend, fallend, sich auflösend im Nichts. In diesem Haus war etwas, das mich liebte. Die Menschen, die hier gelebt hatten, gab es nicht mehr. Und doch gab es mich, und sie waren ein Stück von mir. Der Schmerz der Trennung hielt meine Sinne in der Schwebe, trübte alle Wahrnehmungen mit dem Nebel der Schwermut.
    In meine Stille drangen hastige Schritte, die atemlose Stimme eines kleinen jungen, der nie stillsitzen konnte. Die Welt dieses kleinen jungen war die meine gewesen, jede Erinnerungswelle schleppte Bilder heran, ein Flimmern ging von ihnen aus.
    Ich versuchte sie zu erlassen, ehe sie die Dunkelheit fortspülte; in den meisten kam meine Mutter vor. Einmal sah ich sie mit dünnem Holz ein Vogelhäuschen basteln.
    Es war Winter, die Bäume waren schneebeladen. Mayumi hob mich auf den Rücken und watete, die Füße in Gummistiefeln, mit mir durch den Pulverschnee.
    Ich sah uns beide sehr deutlich: meine Mutter, lachend, Augen und Wangen glühend, und ich auf ihrem Rücken, nach den niedrigen Asten unseres Kakibaums greifend, um das Vogelhäuschen aufzuhängen. Dann sah ich sie wie sie auf unserem alten Klavier einen Walzer von Maurice Ravel spielte, sah ihre gelenkigen Finger über die ’lasten tanzen, ich sah sie auf den flachen Kissen auf der Veranda sitzen und nähen oder im Garten die Hyazinthen und Irisknollen stecken. Und jedesmal wenn ich aus der Schule kam, hielt sie für mich ein viereckiges lackiertes 422
    Kästchen mit irgendeiner Nascherei bereif, eine Mochi-Kugel aus Reisteig, einige große braune Kastanien, in der Schale gebacken, oder eine Süßkartoffel, in Asche gebraten und mit etwas Salz bestreut. Es waren harte Zeiten damals, wir gaben uns mit wenig zufrieden. Doch Mayumi achtete stets darauf, daß auch das einfachste Mahl hübsch aufgetragen wurde: für die Suppe gab es hölzerne Näpfe, für den Reis kleine Schüsseln aus Porzellan, für den Fisch ovale Teller aus Steingut oder Lack.
    Auch in der Armut bewahrte sie ihren Sinn für Schönheit. Vielleicht war Wabi das Wort, das am besten zu ihr paßte. Wabi bedeutet Stille, aber es weist mehr in Richtung von Einfachsein, von Frieden und Heiterkeit. In dieser Geisteshaltung liegt ein ästhetisches Prinzip, so daß Armut niemals zu Armseligkeit und Einsamkeit niemals zur Trauer führt. Zwischen Computern und Telefax, zwischen Geschäftsessen, Barbesuchen und Golfspiel hatte ich das alles vergessen. Nun schwebten die Erinnerungen heran, zerflossen wie Spiegelungen, sobald ich sie zu halten versuchte, zerplatzten in ihrem eigenen feinen Dunst. Diese Welt würde niemals wiederkehren, all diese Bilder würden aus meinem Leben verschwinden; denn nichts war gefeit gegen die Zeit, den Wechsel und das Vergehen. Die Zeit ließ allen Schmerz verebben, und auch von der Freude blieb nichts – nur ein Schimmer in dunklen Gewässern. Das Haus erstarrte in Stille. Es war wie ein Luftanhalten nach innen, unaufhörlich, ein Hinabtauchen in einen Strudel, dessen Kreislauf zerfloß, bis zum völligen Ende. Du stirbst in das Vergessen hinein, Maman, ich suche deine Wärme und finde nichts als Schwemmsand…
    ›Wozu bin ich eigentlich hier?‹
    ›Das frage ich mich auch. Es nützt dir nichts, wenn du halb überschnappst.
    Wolltest du den Tag nicht nutzen, um einiges zu erledigen?‹
    ›Ich wollte nur feststellen, ob ich noch klar bei Verstand bin.‹
    ›Du siehst nicht gerade gut aus.‹
    Isamis Atelier empfing sein Licht durch ein breites Fenster, das jetzt geschlossen war. Ich stieß die Läden auf; ein angenehmer, kühler Wind vertrieb die eingeschlossene Luft. Die Sonne fiel auf Isamis großen Arbeitstisch, auf das Durcheinander von Farbtuben, Pinseln, Lappen und Werkzeugen. Sie hatte seltene Muscheln, schöne Steine und Briefbeschwerer gesammelt. Ich nahm eine große, kristallene Kugel auf, die noch meiner Mutter gehört hatte. In der Kugel war ein silberner Eiffelturm sichtbar; wenn man sie schüttelte, wirbelten Schneeflocken auf. Die Kugel lag schwer und kühl in meiner Hand, und mein Herz krampfte sich zusammen.
    ›Kenchan, leg die Kugel weg! Es bekommt dir nicht, wenn du träumst.‹
    Ich räumte sämtliche Kommoden und Schränke aus, sortierte alle Erinnerungen
    – vergilbte Briefe, Manuskripte, ein paar Fotografien, Schallplatten, alte Kinderkleider. Das Leben Isamis – mein Leben. Viel war davon nicht übriggeblieben. Der Krieg hatte alles vernichtet. Im Atelier standen Reihen und Reihen schmaler

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