Silbermuschel
ich überhaupt noch nicht richtig gelebt‹.
›Und was heißt für dich richtig leben?‹ fragte Isami.
›Ich weiß es nicht.‹
›Du wirst es schon herausfinden‹, meinte Isami.
Zunächst hatte ich mich um ihre Bestattung zu kümmern. Ich sorgte dafür, daß unser altes Haus für die Zeremonie gereinigt und vorbereitet wurde. Am Eingang wurden schwarzweiße Stoffbahnen mit unserem Familienwappen, den
›Falkenfedern‹ (Takanoha), aufgehängt. Dies war das Wappen meiner Familie mütterlicherseits, und ich hatte es stets in Ehren gehalten. Über der kleinen Treppe und dem Eingang wurden Papierlaternen aufgehängt. Im allgemeinen werden bei uns die Totenwache und die Bestattungsfeierlichkeiten von buddhistischen Priestern vorgenommen. Den Priester, den ich mit der Zeremonie beauftragte, hatte Isami bereits gekannt. Er war ein sanfter Mann mit einem warmen Schimmer in den tiefliegenden Augen. Ich hatte Vertrauen zu ihm. Mir schien, daß es ihm nicht, wie manchen anderen Priestern, in erster Linie um das Geld ging, sondern daß er die Worte, die er sprach, aus innerer Überzeugung vertrat.
Am Tag der Bestattung lag Isami in einem offenen Sarg, in ihrem Totengewand aus weichem weißem Leinen. Statt einer Schärpe trug sie nur ein schmales Band, wie das erste Kinderkleidchen, denn nach buddhistischer Glaubensauffassung betreten die Verstorbenen das Jenseits als kleine Kinder. Um ihre Hände waren ein Sterberosenkranz aus weißen Holzperlen sowie eine Schnur mit einem geweihten Täfelchen geschlungen, auf dem ein Satz aus der Sanskritsprache als Totengeleit stand, weil Sanskrit für uns die heilige Sprache des Jenseits ist. Ihr Haar war perfekt frisiert worden, und ihr Gesicht, wachsbleich wie ihr Gewand, kam mir vollendet schön vor. Ich hatte angeordnet, daß sie nur sehr zart geschminkt wurde.
Die dünne Haut spannte sich über die Knochen, die so fein geformt waren, daß ihr Antlitz fast mädchenhaft wirkte. Unter dem Hauch von Rot schienen ihre Lippen zu lächeln.
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Hinter dem Sarg war ein Altar errichtet worden, mit Blumengirlanden umrahmt. Ich hatte weiße Astern ausgewählt, die schönsten, die ich finden konnte.
Auf dem Altar standen ein bronzenes Weihrauchgefäß, Silberschalen und schwere Kerzenleuchter aus Messing. In der Mitte war in einem Silberrahmen das Porträt von Isami aufgestellt worden, eine Fotografie von früher. Die brennenden Kerzen und der vor dem Altar sich kräuselnde Weihrauch umgaben die Fotografie mit einer leuchtenden Aura. Die Fotografie war stark vergrößert und retuschiert worden, so daß Isamis Züge leicht verschwommen wirkten und die Augen aus sehr weiter Ferne auf mich herabsahen. Ruhig und lächelnd blickte sie mich an, mit einem Anflug von Spott um die Lippen. Ich erkannte mich in ihr, in dem Umriß ihres Gesichts, der Augen- und Lippenform. Ich hatte Isamis Porträt aufgestellt und sah mein eigenes Gesicht. Denn ich war mit ihr gestorben und wiedererwacht, zu einem Leben, aus dem es kein Zurück mehr gab. Ihr Tod war gleichsam meine zweite Geburt gewesen. Und jetzt wartete ich auf das, was kommen würde.
Ich war erstaunt, daß so viele Gäste zur Trauerfeier erschienen; ich hatte ganz vergessen, wie berühmt Isami war. Leute aus Buchhändler- und Verlegerkreisen, Galeriebesitzer, Vertreter von Presse und Rundfunk. Sogar ein Fernsehteam traf ein, aber ich bat sie, während der Zeremonie nicht zu filmen. Die Teilnehmer standen Schlange vor dem Haus und trugen sich in das Gästebuch ein, das ein entfernter Onkel von mir auf einem Tisch ausgelegt hatte. Nach dem Eintragen in das Gästebuch hinterließen Freunde und Verwandte in einem für diesen Zweck vorgesehenen Umschlag eine Geldsumme, dazu bestimmt, die Kosten der Bestattung zu decken. Bald war unser Wohnzimmer und der Gang bis zur Haustür voller Menschen, die in dichten Reihen knieten, während der Priester seine Lesung vor dem Altar begann. Er stand ganz ruhig, seine dunkle Robe fiel in geraden, schweren Falten um seine schmale Gestalt, und nur seine Lippen und seine Hände bewegten sich. Er verglich den Tod mit einer Reise, die wir alle, früher oder später, antreten müssen. Und er sagte, es sei wichtig, stets für die letzte Reise bereit zu sein, falls uns ein Befehl von oben nach Hause rief. Er las aus dem heiligen Totenbuch vor und gab Isami ihren neuen Todesnamen in Sanskrit. Ich stand mit Midori und Norio in der ersten Reihe. Mein Blick hing an der Verstorbenen, doch ich verspürte keinen Schmerz mehr,
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