Silbermuschel
Kisten, die eine ganze Bibliothek von Büchern enthielten. In 423
anderen Kisten waren die Freiexemplare von Isamis Kinderbüchern aufbewahrt, mit ihren Übersetzungen in verschiedenen Sprachen. Eine Anzahl davon wollte ich Bibliotheken und Schulen zur Verfügung stellen.
›Manche Dinge, die du geschrieben hast‹, sagte ich, ›werden den Kindern wie Phantasiegeschichten vorkommen. Später, wenn sie erwachsen sind, werden sie vielleicht die Zeichen deuten. Und wenn sie sie nicht sehen wollen, dann ist das ihre eigene Sache.‹
Isami teilte meine Meinung.
›Wir können nicht das Versagen anderer Menschen auf uns nehmen. Nur unser eigenes. Und das ist schon genug, meinst du nicht auch?‹
Die Originale von Isamis Bildern hingen an den Wänden. Ich goß mir ein Glas Brandy ein und wanderte von Bild zu Bild, wie in einer Galerie. Die Bilder stellten Momente der Natur dar, Bewegungen und Empfindungen: der Schatten eines Windglöckchens auf einem Papierfenster; Kinder, die Federball spielten; karminrotes Ahornlaub in einem grünen Bach; der Fuji-Berg, von reinem Weiß umhüllt; ein Meer von Kirschblüten unter gewitterschweren Wolken; der Schein einer Laterne in dunkelblauer Nacht. Ich betrachtete diese mir vertrauten Bilder; jedes sprach zu mir und erzählte mir seine Geschichte.
›Ich liebte das Leben so sehr‹, sagte Isami, ›daß ich die Furcht vor dem Tod nicht mehr fühlte. Das kannst du auch lernen, Kenchan. Suchst du den Frieden, öffne dein Herz der Natur.‹
Ich nahm alle Bilder ab. Eigentlich wollte ich sie aus den Rahmen entfernen, aber diese waren aus schönem Holz, und ich zog es vor, sie in Kisten zu verstauen.
Ich packte Isamis Geschirr ein, ihre schönen Teeschalen, ihre Puppensammlung, das Rollbild aus der Tokonoma. In einer Kommode, mit Eisenbeschlägen versehen, lagen, sorgfältig zusammengefaltet, Isamis Kimonos.
›Ich bin zu dünn, Kenchan. Kimonos stehen mir am besten‹, hatte Isami oft zu mir gesagt. ›Im Minikleid sehe ich entsetzlich aus.‹
Ob das wirklich zutraf, konnte ich nicht beurteilen, aber Isami zeigte in allen Dingen unfehlbaren Geschmack. Bei festlichen Anlässen, Vernissagen und Buchpremieren erschien sie nie anders als in japanischen Gewändern. Kenner bewunderten die elegante und komplizierte Art, wie sie die dreiunddreißig Zentimeter breite und vier Meter lange Obi-Schärpe zu schlingen wußte. Dazu trug Isami Spiegeltäschchen aus feinster Mosaikarbeit in Crêpe und einen silbernen Haarpfeil. Ich nahm ein blaßlila Gewand mit violettem Futter und schwerwattiertem Saum heraus, kostbar bestickt mit dem Muster der sieben Herbstblumen. Es wirkte fast wie neu, denn Isami schüttelte die Gewänder ein paarmal im Jahr aus und hing sie an die Luft. Ein zarter Maiglöckchenduft wehte aus der Seide; ich spürte, wie meine Poren sich fröstelnd zusammenzogen.
›Kimonos kommen nie aus der Mode‹, sagte Isami. ›Wenn du mal eine Tochter hast, werden sie ihr nicht schlecht gefallen. Den Obi zu binden ist zwar kein 424
Vergnügen, aber man kann alles lernen.‹
›Eine Tochter? Wie kommst du darauf, ausgerechnet jetzt, wo ich mich von Midori trenne?‹
›Sei nicht einfältig. Dir laufen noch andere Frauen über den Weg.‹
Am Tag vor meiner Abreise brachte ich alle nutzlosen Sachen in den Garten und zündete ein Feuer an. Als alles verbrannt und die Asche zerstreut war, ging ich in das Haus zurück. Ich hatte einem Rentner aus der Nachbarschaft den zweiten Schlüssel anvertraut und mit ihm eine Abmachung getroffen, daß er hin und wieder nachschaute, ob alles in Ordnung war, und in meiner Abwesenheit den Garten instand hielt.
Die Dinge, die für mich von Bedeutung waren, hatte ich in Kisten eingepackt.
In der Küche stand noch eine Flasche mit Brandy. Ich holte sie, setzte mich auf die Matte im Wohnzimmer, den Blick auf die leere Tokonoma-Nische gerichtet.
›Was willst du mit dem Brandy?‹ fragte Isami. ›Du solltest jetzt lieber gehen.‹
Ich setzte die Flasche an die Lippen.
›Nur einen Schluck.‹
Ich trank, hustete und wischte mir mit dem Handrücken über den Mund. Dann nahm ich einen zweiten Schluck und noch einen und immer wieder, bis meine Augen brannten und mein Kopf voller Nebel war. Danach streckte ich mich auf der Matte aus und schlief ein. Als ich nach einigen Stunden mit steifen Halsmuskeln erwachte, lag ich, den Vollmond im Gesicht, unter dem Fenster. Ich stützte mich mühsam auf, kroch auf Händen und Knien ins Badezimmer. Dort machte ich
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