Silbermuschel
von der See her. Ich verschränkte die Arme.
Ken zog seine Lederjacke aus und legte sie mir um die Schultern. Sie war noch warm von seiner Haut.
»Ich kenne ein Hotel, ganz in der Nähe. Hoffentlich haben sie noch ein Zimmer.«
In Niigata war die Nähe des Meeres intensiver zu spüren als in Tokio. Der Wind schmeckte nach Salz und Tang. Im letzten Tagesschein wirbelten Hunderte von Möwen über die breiten Straßen. Sie wirkten wie aus Glas, beinahe durchsichtig. In den Lücken zwischen den Hochhäusern kräuselte sich das Meer.
Die Bordlichter der Schiffe blinkten wie Sterne. Wir kamen nur langsam vorwärts, eingekeilt in einer Autoschlange. Ich hielt Ken mit beiden Armen umfaßt und preßte mich an seinen Rücken, während er sich mit seiner Maschine geschickt durch den Stau schlängelte. Wir erreichten das Hotel – ein imposanter Bau an der Hauptverkehrsstraße –, als es bereits dunkel war. Wir hatten Glück: Ein Zimmer war noch frei. Der Lift brachte uns in die sechste Etage.
Das Zimmer war geräumig und unpersönlich, die Klimaanlage summte. Wir traten ans Fenster. Der Hafen mit seinen Docks und Lagerhäusern lag ausgebreitet vor uns, bunt gesprenkelt mit Scheinwerfern, tiefen Schatten und zuckenden Lichtreklamen. Der Himmel war pechschwarz, nur am Horizont über dem Meer leuchtete ein letzter roter Streifen. Ken streckte die Hand aus.
»Drüben liegt Sadoga-Shima, das Ende der Welt.«
Ich erinnerte mich, daß er erzählt hatte, die Insel sei früher ein Verbannungsplatz für Verbrecher gewesen.
»Hast du dort ein Haus?« fragte ich ihn.
»Liebste, du bist einzigartig!« kicherte er. »Jede andere Frau hätte als erstes danach gefragt, bevor sie sich von mir entführen ließe!«
Sein Lachen erlosch; er strich mit den Fingern so durch mein Haar, daß mein Nacken erschauerte. Doch sein Blick war in die Ferne gerichtet, als hielte er nach etwas Ausschau.
»Ja, ich habe ein Haus auf Sado.«
»Schon lange?«
429
»Seit ungefähr acht Jahren. Ich merkte allmählich, daß ich keinen Anker brauchte, sondern einen Hafen für meine Ruhelosigkeit. Das Haus war unbewohnt und schlief seit Jahren. Aber es hatte Träume, die mir vertraut waren. Durch Häuser gehen allerlei Dinge, und viele bleiben haften darin. Und indem ich das Haus mit meinen Erinnerungen füllte, wurde es wach und lauschte mit seinen Wänden. Das Haus weiß mehr als ich. Es hält meinen Körper fest und ruhig. Ich habe es instand setzen lassen, so nach und nach. Vieles habe ich selbst gemacht.
Und ich wollte das Haus meine Zuneigung spüren lassen.«
Er lächelte wieder, öffnete seine Hände und hielt sie mir hin.
»Da, siehst du die Schwielen? Dafür kann ich jetzt die Schlegel besser halten.
Und verstehe etwas von Schreinerei.«
Genauso geht es mir, dachte ich; ich höre, wie die Häuser sprechen. Sie sind unser erweitertes Selbst, in dem unsere Wahrheit sich in deutlicheren Worten offenbart. Oh, ich versteh’ dich! dachte ich, nahm seine beiden Hände und legte sie an mein Gesicht. Da fühlte ich, daß er nicht ganz bei mir war. Und zwar fühlte ich es an der Art, wie er den Finger über meine Wange gleiten ließ, zärtlich und zerstreut, bis er schließlich bekannte:
»Die Wahrheit ist, daß ich jetzt ein Problem habe. Aber Männer benehmen sich in diesen Dingen sehr merkwürdig. Kleben lieber nächtelang auf einem Barhocker fest, als einer Frau zu sagen: ›Ich will dich nicht mehr.‹«
Er sprach von Mitsue, natürlich. Meine Vorstellung beschäftigte sich mit ihr, immerzu. Auch wenn ich in seinen Armen lag, geborgen unter der Wärme und Glätte seines Körpers, den Salzgeschmack der Liebe im Mund, klopfte und hämmerte sie an der Tür meines Herzens, bis ich im Nebel meiner Verzückung ihren Umriß erkannte.
»Ken, was wirst du tun?«
»Verzeih mir«, sagte er. »Ich hasse solche Szenen so sehr. Aber ich kann nicht mehr länger den Drückeberger spielen. Außerdem hat sie noch einige Sachen bei mir.«
»Möchtest du, daß sie die Sachen holt, bevor ich komme?«
»So ähnlich habe ich es mir gedacht.«
»Und jetzt fühlst du dich gemein, weil du sie nicht verletzen willst und es trotzdem tust.«
»Ja. Und dich verletze ich auch, ich weiß schon.«
Jeder Atemzug preßte mein Herz zusammen. Ich hatte das Gefühl, als ob sich der kleinste Nerv unter meiner Haut zitternd zusammenkrümmte. Die Beine taten mir weh, die Schenkel, alles tat mir weh. Ich schluckte.
»Laß mich aus dem Spiel. Ich wäre traurig, wenn du
Weitere Kostenlose Bücher