Silbermuschel
Mitsue, lassen wir das, wir reden später darüber. Und schob die Sache wieder hinaus. Aber ich konnte nicht anders; ich sehnte mich so danach, dich in meine Arme zu nehmen. Ich wurde wütend, weil der Aufzug nicht früh genug kam, lief zu Fuß alle sechs Stockwerke hinauf. Von japanischer Selbstbeherrschung keine Spur; ich benahm mich eher wie ein liebestoller Sizilianer. Und dann sah ich dich, in meine Jacke gewickelt; ich sah dein Haar auf dem schwarzen Leder, dein schlafendes Gesicht.
Es überkam mich eine solche Rührung, daß mir die Kehle schmerzte.«
Ich stöhnte, als er mich hochriß. Wir umarmten uns, als könnten wir nichts anderes sehen oder hören oder fühlen. Später, in der Nacht, hörte ich zwischen dem Summen der Klimaanlage das Hupen der Schiffssirenen. Ich strich mit der Zungenspitze über Kens nackte Brust. Im Schlaf hatte er beide Arme um mich gelegt, ich hörte sein Herz schlagen. Ich jedoch lag wach und dachte an Mitsue. Ich spürte ihren Schmerz, als wäre er mein eigener.
Der Tag brach an; der Himmel schimmerte silbern, dann rosa. Behutsam befreite ich mich aus Kens Armen. Ich warf seine Lederjacke um meine Schultern, verließ das Bett und trat ans Fenster. Das Meer war völlig in Nebel gehüllt.
Allmählich lösten sich die Dämpfe; unter weißen, zerfließenden Wolkenfeldern zeigten sich Kräne, Masten, Fabriken und Dächer. Ich lehnte die Stirn an die Scheibe. Mein Körper war matt und locker, noch warm von unseren Umarmungen.
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Ich hörte, wie Ken sich regte, und wandte mich um.
»Warst du fort?«
»Nur am Fenster.«
»Komm her!«
Ich trat näher, setzte mich auf die Bettkante. Er streifte die Jacke von meinen Schultern, zog mich zu sich hinab. Ich öffnete seine Lippen und vergaß, daß der Tag kam. Das Läuten des Weckers ließ uns erstarren; wir lösten uns voneinander, schauten uns an, lachend und etwas befangen.
»Halb sechs, Juliesan! Es wird Zeit.«
Wir frühstückten an der Bar, tranken heißen, starken Kaffee, bestellten Rühreier mit Schinken, Pfannkuchen und Obstsalat. Wir wunderten uns, daß wir solchen Hunger hatten, bis uns einfiel, daß wir am Abend zuvor nichts gegessen hatten. Wir kamen uns plötzlich schrecklich komisch vor und staunten darüber, daß uns die Liebe zu Luftpflanzen machte, die das Licht trinken und sich von Träumen ernähren.
Das Tragflächenboot »Yamato-Maru« lag an der Pier. Die Reisenden standen schon Schlange. Viele waren mit Fahrrädern unterwegs, einige hatten Motorräder.
Es waren hauptsächlich Leute, die nach Sado zur Arbeit fuhren. Ein Schwarm von Schülern kauerte abseits am Boden. Die Mädchen trugen einen dunklen Faltenrock und eine weiße Bluse im Matrosenlook, die Jungen eine Art Kadettenuniform mit Goldknöpfen. Als wir an Deck gingen, dröhnten schon die Motoren. Der Himmel war blau, der Horizont etwas bewölkt. Die Schüler drängten sich an uns vorbei, warfen uns neugierige Blicke zu. Alle schwatzten, lebhaft wie Schwalben; ihr schönes schwarzes Haar glänzte in der Morgensonne.
»Möchtest du oben an Deck bleiben?« fragte Ken. Er gab mir einen Pullover.
Er selbst trug nur die Lederjacke über seinem T-Shirt. Punkt acht setzte sich das Tragflächenboot in Bewegung. Die Hochhäuser waren von Licht angestrahlt, aber noch schwebte ein Rest von Schatten in der Luft. Der Wind frischte auf, als das Boot aus dem Hafen lief. An den Ufern lagen große Frachtschiffe und Dampfer; die Flaggen mit Japans rotem Sonnenzeichen klatschten gegen die Masten. Bald erhöhte das Boot die Geschwindigkeit; der Wind verwandelte sich in einen stetigen Luftstrom. Ken warf mir einen lachenden Blick zu. Er legte beide Arme um mich, drückte sein kaltes Gesicht an das meine. Sein Haar wehte im Wind, er steckte es hinten in den Jackenkragen. Er wirkte nicht weniger übermütig als die Halbwüchsigen, die sich in der Kabine und an Deck in lärmenden Gruppen verteilten. Die Brandung schäumte, der Wind sang in verschiedenen Tönen, und über unseren Köpfen kreisten wirbelnd die Möwen. Wir fuhren an dem Leuchtturm vorbei. Am Ufer vermischten sich einige Rauchfahnen mit dem blaugrauen Dunst, der noch dort lag. Ich starrte in die Ferne, ringsum, betrachtete den Himmel mit den dahinschwebenden Wolkenfetzen. Mein Bauch war gespannt, ich fühlte ein krampfartiges Ziehen. Ich hoffte, daß es nur der Seegang war. Mitsue, hast du 433
geschlafen, während wir uns liebten? Oder hast du wach gelegen, neben den verblichenen Bildern der Liebe? Mitsue, ich
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