Silbermuschel
weiß nur wenig von dir. Du bist schon außerhalb und trotzdem noch bei uns. Es ist demütigend, nicht die Richtige gewesen zu sein. Ich kann dich verstehen. Du glaubst, er liebt dich noch immer. Du hoffst noch auf eine Chance.
Wir ließen die Küste hinter uns. Die Kräne, Schornsteine, Hochhäuser verloren sich im Dunst. Das Boot erreichte seine volle Geschwindigkeit, brauste mit breiter Bugwelle dahin. Soweit wir sehen konnten, war nichts als Meer, türkisblaues, in langgestreckten Wogenzügen schäumendes, gleichmäßig brausendes Meer. Ich fühlte, wie mein Kopf in der kalten Luft immer klarer und freier wurde. Der Wind schnitt wie ein Messer, es tat weh und tat gut. Eine Gänsehaut lief an mir herab.
Alles schien ins Unwirkliche entrückt, und alles, was zuvor so vertraut gewesen war, erhielt etwas Schemenhaftes: selbst das Festland verschwand in geisterhafte Ferne. Etwas erwartete uns auf dieser Insel. Ich wußte nicht, was es war. Es war groß, fast heilig und dabei vollkommen natürlich. Die Gewißheit, daß ich nur für den Augenblick gelebt hatte, als ich meinen Fuß auf diese Insel setzen würde, ließ mich alles anders fühlen als sonst. Die Freude fiel auf mich wie das Sonnenlicht, aber zugleich empfand ich auch eine leise, unerwartete Furcht, wie sie jeder größeren Veränderung vorangeht. All dies hing mit dem Meer und der Insel zusammen und vielleicht auch mit dem, was wir fühlten.
Ken hatte die Arme um mich gelegt. Seine goldbraunen Augen waren in die Ferne gerichtet wie Seemannsaugen, doch ruhiger. Augen, die vieles gesehen hatten und jetzt nur noch das Wesentliche wahrnahmen. Er merkte, daß ich ihn ansah, lächelte sein reizendes Lächeln und ergriff meine Hand. Meine Finger schmerzten vor Kälte. Er wärmte sie mit seinem Atem und nahm sie unter seine Jacke.
»Du frierst ja. Komm! Wir gehen lieber nach unten.«
Die Sonne stand hoch, als wir die Gewässer der Insel erreichten. Zuerst war das Land nur ein Streifen am Horizont gewesen. Dann kamen kuppelförmige Berge in Sicht, von erloschenen Vulkanen gebildet. Sie schimmerten zart wie Tuschzeichnungen, und darunter zog sich die Küste halbmondförmig in die Ferne.
Über der Landschaft lag ein blauer Zauberschein, und ich spürte diese Verzauberung in meinem Blut.
Auf Deck lärmten und lachten die Schüler, während die Sonne auf den polierten Knöpfen ihrer Uniformen blinkte. Sie redeten erregt aufeinander ein, und keiner hörte, was der andere sagte. Die rauhe Seeluft brannte auf meinen Wangen.
Ich hatte immer noch Leibschmerzen, aber es machte mir nichts aus. Die Insel, die sich vor meinen Augen aus dem Meer erhob, rief mich und nahm mich gefangen, in gleichem Maße, wie mein Herz von ihr Besitz ergriff. Hier hatte die Erde eine Spur, einen Schatten aus fernen Zeiten bewahrt. Die Landschaft war ebenso ruhig wie kraftvoll und von herber Großartigkeit. Ich kam von sehr weit her; doch ich 434
kannte das Geheimnis der Insel, ebenso wie sie meines kannte.
Kens Arm umfaßte meine Schultern, der Wind wehte mir sein Haar über die Stirn. Er wahrte das Schweigen, und auf seinem Gesicht lag jener Ausdruck von Traum, von Nachsicht und Spott, den es manchmal annahm – wenn er, als wären es die eines anderen, seinen Gefühlen und Gedanken in der Erinnerung folgte. Auf dieser Insel hatte er seinen Frieden gefunden. Und er teilte diesen Frieden nun mit mir, genauso, wie er das Wasser aus den geweihten Quellen mit mir geteilt hatte, bevor wir die Schwelle der Heiligtümer überschritten.
Wir näherten uns der Küste. Die »Yamato-Maru« verlangsamte ihre Geschwindigkeit. Hinter den Wellenbrechern leuchteten die Inselgewässer smaragdgrün, aber in der Nähe des Strandes war die See rot gefärbt von den Frühlingstrieben des Seetangs. Am Ende der Landzunge, auf einem felsigen Hügel, erhob sich ein Leuchtturm. Der Berge wegen lag die Umgebung des Leuchtturms noch im Schatten, während auf die weißen Kalksteinfelsen grell das Licht schien.
Auf dem Strand lagen Fischerboote; große Netze trockneten an der Sonne. Bald kam der Hafen von Ryotsu in Sicht; als erstes zeigten sich lauter schräg aufgerichtete Kräne, dazwischen Schiffsmasten, Fabriken und Speicher. Die
»Yamato-Maru« passierte die Einfahrt zum Hafen. Frachtschiffe, Tanker, Fähren und ein Durcheinander großer und kleiner Fischerboote lagen am Kai. Die Wellen schaukelten ziemlich stark, die Ankerketten klirrten.
Die »Yamato-Maru« wendete leicht in das lange Becken hinein, fuhr
Weitere Kostenlose Bücher