Silbermuschel
rückwärts der Mauer entgegen. Das bronzefarbene Wasser schäumte mit einem Geräusch von zerreißender Seide. Die Motoren tuckerten noch eine Weile, dann wurde es still: Das Boot hatte angelegt. Die Passagiere drängten zum Ausgang, schleppten Taschen und Koffer mit sich. Ken ging sein Motorrad holen, schob es an Land und reichte mir den Helm.
»Es ist nicht mehr weit.«
Ich nahm auf dem Motorrad Platz. Er drehte sein Haar zu einem Tau, steckte es hinten fest und setzte die Maschine in Bewegung. In den ersten paar Minuten fuhren wir in einer Kolonne von Lieferwagen, Autobussen, Motorrädern und klingelnden Fahrradfahrern. Dann verteilte sich der Verkehr. In der verwirrenden Erregung der Seeluft, das Flimmern der Sonne in den Augen, gefiel mir alles, was ich sah: verwitterte Holzhäuser, meist einstöckig, jedes anders und doch alle zusammenpassend wie Puzzleteile. Unzählige Cafés, Boutiquen, Töpfereien, Lebensmittelläden und Werkstätten, von Arkaden aus Wellblech überdeckt. Der Boden, mit Kacheln gepflastert, zeigte ein rotweißes Wellenmuster. Popmusik, Autohupen und Motorenlärm schallten ebenso laut wie in Tokio, aber die Menschen in den Straßen wirkten gelassener als auf dem Festland. Viele der älteren Frauen trugen wattierte Jacken und Hosen oder Baumwoll-Yukatas in gedämpften Farben. Ihre zierlichen Füße steckten in weißen Socken, und ihre Getas – ihre Holzsandalen – klapperten auf den Kacheln. Teenager führten keck 435
die letzten Modetrends spazieren, radfahrende Mütter trugen schlafende kleine Kinder auf den Rücken. Auch die Männer, braungebrannt und kräftig gebaut, bewegten sich ohne Eile. Vor den Läden flatterten blaue Flaggen mit wunderschön stilisierten Natursymbolen: Kraniche, Meereswogen, Schmetterlinge, Pfingstrosen.
Rote Papierlaternen, schwarz beschriftet, schaukelten im Luftstrom. Neben den Schiebetüren standen Dachs-Figuren verschiedener Größe, Glücksbringer aus Ton, Tanuki genannt, mit weißem Bauch, Kulleraugen und großen Geschlechtsteilen.
Manche trugen eine Art Kulihut, der sie überaus komisch wirken ließ. Überhaupt hatten die Inselbewohner eine Vorliebe für Tierfiguren: Fische, Löwen, Katzen und Kröten mit ein oder zwei Jungen auf dem Rücken, alle aus Ton, standen in Gärten und bei Hauseingängen. Holztore waren mit smaragdgrünen Ziegeln bedeckt, übereinander gewölbt wie kleine erstarrte Wellen. Bambusstauden fröstelten im Wind, die roten Pfosten der Quartiersschreine leuchteten durch schattiges Laub.
Unter seinen Elektrizitäts- und Telefonleitungen wirkte Ryotsu kunterbunt, niedlich und zauberhaft wie ein Märchenbuch-Städtchen.
Die Hauptstraße endete auf einem Platz mit einigen modernen Bauten, wo die Autobusse hielten. Ken fuhr auf der Küstenstraße weiter. Der Wind wirbelte weißen Staub in die Luft. Die Stadt hörte so plötzlich auf, daß es wie ein Bruch wirkte: nur noch ein paar Häuser, einige Reisfelder, von graublauen Reklametafeln durchbrochen, und dann die Weite, die Dünen, die Wellen mit ihren blendenden Schaumkronen. Der Strand war mit Kalksteinklippen durchzogen, und dazwischen leuchtete der Sand vollkommen weiß. Die Straße schwang sich höher, an dunkelgrünen Kiefern vorbei.
Ken fuhr gewandt und schnell den Drehungen der Straße folgend. Plötzlich kam an einer Wegbiegung ein kleiner, fächerförmiger Hafen in Sicht. Eine Anzahl Häuser klebte übereinander an dem steilen Abhang. Die Sonne hatte die Planken fast schwärzlich gebrannt. An den Fernsehantennen auf den Blech- und Ziegeldächern zerrte der Wind. Fast jedes Haus hatte einen kleinen, von einem Bambuszaun umgebenen Garten mit Obstbäumen, Blumen und Gemüse. Am Ende der Mole befanden sich die Liegeplätze einiger Fischerboote. Eine Bergkuppe, dicht bewaldet, blickte auf den Hafen hinunter, warf dunkel und still ihren Schatten über den Strand. Sie wirkte wie eine Begrenzung des Vordergrundes, ein schützender Göttersitz. Und dahinter zog das Meer seinen großen kristallblauen Bogen; es war so nahe, daß es höher schien als das Land. Ich merkte, daß wir eine Kurve gefahren waren und die Bucht viel näher an der Stadtgrenze lag, als ich angenommen hatte. Doch dieser Ort erschien mir wie eine Welt für sich, eine Welt, in der die Nähe so vollkommen wie die Ferne war.
Ich hatte meine Heimat gefunden. Ich wußte es augenblicklich; mein Gefühl belog mich nicht. Ich hatte Fuß gefaßt im Unbekannten und im Vertrauten, im Geheimnisvollen und im Unverfälschten.
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