Silbermuschel
Ich hatte genug gelitten, schon zu lange gewartet. Hier war ich lebendig, wach, erfüllt von Zärtlichkeit und Stärke. Hier war 436
der Ort, an dem ich sein wollte; jener Ort, an dem sich mein naiver Glaube, meine Hoffnung auf das Paradies erfüllen konnte.
Mein Gesicht glühte; ich preßte beide Arme um Ken und spürte, wie er meine Umarmung mit leichtem Druck erwiderte. Dann bog er in einen Fußweg ein, fuhr auf ein Haus zu, das einige hundert Schritte weiter stand: ein Haus wie die anderen auch, klein und aus schwärzlichem Holz, mit einer Veranda und Schiebeläden für die Fenstertüren zum Schutz gegen die Stürme. Der Zaun bestand aus ungleichen Gitterstäben von gespaltenem Bambus. Ken hielt vor dem Tor aus Reisig, das mit groben Bindfäden zusammengebunden war. Er nahm seinen Helm ab. Dann wandte er sich mir zu, mit einem Lächeln, und schüttelte sein Haar.
»Wir sind da.«
Ich betrachtete das Haus, während Ken unser Gepäck ablud und das Tor aufstieß. Auf den meergrünen Ziegeln spiegelte sich das Licht; unter dem Vordach klingelte ein gußeisernes Windglöckchen. An der Wand stand ein Wasserbehälter mit einem Holzdeckel. Die Luft war erfüllt von dem Duft der Nelken, die in Töpfen blühten, und von dem kräftigen Aroma der Zwergkiefern. Hand in Hand gingen wir über das unregelmäßige Pflaster. Auf dem Zaun saß ein Falke, reglos wie eine Skulptur, und ohne uns zu beachten. Die Kaki- und Pfirsichbäume waren noch jung und geschmeidig, während der rauhgeschuppte Stamm der Kirschbäume zeigte, daß sie schon lange lebten. Die Bougainvillea wucherten in zäher Fülle, und an einer Hauswand rankte Geißblatt empor; der flammendrote Blütenregen hing von schlanken, fast unsichtbaren Stengeln herab, und der Wind, der sie bewegte, schien Funken in die Luft zu sprühen. Und auf dunkelgrünen Blätterwellen getragen, leuchteten Azaleen in theatralischer Pracht, feuergolden, blaupurpur, dunkelrosa, ein schwimmendes, wehendes Blumenmeer.
»Hier blühen sie später als auf dem Festland«, sagte Ken.
Bäume und Sträucher wuchsen ungezwungen und verschlungen, ein kräftiges Gewirr voll urtümlicher Energie. Der ganze Garten war gebundene Wildnis und gleichwohl erfüllt von Frische und ungebändigter Freiheit. Ein paar Steinstufen führten zur Haustür. Ken schloß auf. Wir schlüpften aus unseren Schuhen. Ken ging voraus, um die Läden zu öffnen. Mit dem schleifenden Geräusch fiel von allen Seiten Licht in das Haus. Ich stand geblendet auf der Schwelle.
»Ach… Ken, wie wunderschön! «
Ich glaube, es waren meine ersten Worte, seit ich vom Motorrad gestiegen war.
»Gefällt es dir?« fragte er heiter.
Der Wohnbereich war ein einziger großer Raum im Erdgeschoß, durch Schiebewände aus Holz und Reispapier in mehrere Zimmer aufgeteilt. Über den Türen war ein Holz als Täfelung angebracht, schimmernd wie Bernstein und von Wind und Sonne zu einem Wellenmuster geschliffen. Das hereinflutende Licht schimmerte auf den hellen Binsenmatten, auf den Wänden, mit honigfarbener Rauhfasertapete bezogen.
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»Vier Zimmer«, sagte Ken, »und davon eines, das sich in zwei teilen läßt. Als ich hier einzog, fand ich das Haus zu groß für mich. Jetzt bin ich froh, daß wir genügend Platz haben.«
Er beobachtete still, wie ich mich umsah. Das Schweigen zwischen uns verlieh der Ausstrahlung des Raumes, in dem wir uns befanden, eine besondere Intensität.
Zuerst hatte ich nur den Frieden, die absolute Harmonie dieses Hauses empfunden.
Jetzt nahm ich die verschiedenen Einzelheiten wahr. Jeder Farbton, jeder Gegenstand darin förderte ein Gefühl des Geborgenseins und des Behagens. In schlichten Holzrahmen hingen Bilder. Scheu trat ich näher, um sie zu betrachten.
Mein Herz pochte schwer. Ich erkannte die Originale der Aquarelle wieder, die in dem Bilderbuch meiner Kindheit abgebildet gewesen waren: das Mädchen und der Kastanienbaum, der kleine Junge und der Fuchs, die tanzenden Kinder unter dem Sonnenrad. Die kühlen, klaren Farben leuchteten frisch wie am Tag ihrer Entstehung. Erst gestern war ich diesen Bildern im Traum begegnet. Nun war der Kreis geschlossen: Ich hatte meine Wünsche im Mondlicht gezeugt und meine Sehnsucht lebendig gemacht, mit meinem Atem und mit meinem Blut.
Und was du willst, daß es geschehe,
So geschieht es auch.
Mühsam löste ich mich aus meiner Versunkenheit, ließ meine Augen überall umherwandern. Einige Sessel mit hellen Bezügen standen um einen niedrigen Lacktisch,
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