Silbermuschel
Küchenanrichte. Dann schob er die Hände in die Jeanstaschen und pfiff leise zwischen den Zähnen.
Ich trat zu ihm hin.
»Was schaust du?«
»Ob die Farben zusammenpassen«, gab er heiter zur Antwort. »Wir sollten allmählich etwas essen, findest du nicht auch?«
Ich erwiderte sein Lächeln. Er hatte längst herausgefunden, daß Ärger sich durch Ablenkung verflüchtigte. Er war hellwach in diesen Dingen und ließ niemals zu, daß er sich selbst entglitt. In Wirklichkeit war er vom Zorn nur um Haaresbreite entfernt; doch er beobachtete sich selbst wie aus weiter Ferne und war sich 441
gleichsam so nahe, daß er jeden Mißklang sofort erkannte und von sich wies.
Später saßen wir auf den Kissen im Wohnzimmer, tranken Kaffee und sprachen leise miteinander. Ken lag ausgestreckt auf der Matte, den Kopf in meinen Schoß gebettet. Durch das Fenster flutete das blaue Nachmittagslicht,“ das dumpfe Dröhnen der See klang gedämpft. Ich seufzte glücklich auf.
»Wie still es hier ist!«
»Glaubst du«, fragte er lächelnd, »daß du hier leben kannst?«
»Ich könnte nirgendwo anders mehr leben!«
»Manche Leute«, meinte er, »empfinden die Stille als bedrückend. Für mich ist sie das Zuhause, jener innere Kern, von dem ich dann und wann auch wieder auszugehen vermag. Hier habe ich gelernt, Dinge, Bilder, Situationen so zu sehen oder zu hören, daß die Bewegung des Geistes nicht in ihnen verweilt, sondern weitergeht. Sich von überholten Wertvorstellungen zu lösen gelingt nur, wenn man sich endlich in Ruhe kennenlernt.«
Er hob die Hand und streichelte mein Gesicht.
»Warum hast du so heiße Wangen? Hast du Fieber?«
»Ich glaube, das macht der Wind.«
»Deine Haut duftet nach Seewasser.«
Ich küßte seine Handfläche. Ich wußte, daß es Frauen gab in meinem Alter, die schon die Zartheit und Glätte ihrer Haut eingebüßt hatten, aber gleichzeitig wußte ich auch, daß ich in seinen Augen immer schön sein würde. Seine Gabe, mühelos Glück zu verbreiten, schenkte mir Freude ohne Schatten, vertrieb meine Neigung zur Melancholie, jenen Zug hoffnungsloser Trauer, der mich seit meiner Kindheit belastete. Seine Hand wanderte meinen Hals entlang, strich über meine Brüste. So zart die Berührung auch war, die Spitzen wurden sofort hart unter dem Pullover.
Eine kleine heiße Welle flackerte in meinem Leib auf, verstärkte die Schmerzen, die in die Lenden ausstrahlten. Ich drückte ihn an mich, wiegte ihn leicht hin und her und hielt die Augen geschlossen, wie um meine Visionen unter den Lidern zu behüten.
»Ich frage mich, wohin wir gehen, du und ich…«
»Weit«, hörte ich ihn flüstern, »sehr weit. Das ganze Leben ist eine Reise ins Unbekannte. Und irgendwann auf dieser Reise begegnen wir uns selbst, und dann ist es wichtig, daß wir uns nicht verachten.«
Ich öffnete die Augen. Wir sahen einander an. Er umfaßte mich mit beiden Armen, zwang mich sanft auf die Matte nieder. Seine Lippen bewegten sich an meinem Mund.
»Und sicher gibt es kein größeres Geschenk für einen Menschen, als vor dem anderen wie vor sich selbst zu stehen und ihm sagen zu können: Ich liebe dich.«
442
30. KAPITEL
A uf dieser Insel war die Welt nicht nur klar, glitzernd, wunderbar kühlend, sondern sie lebte und atmete. Alles See. Alles Wogen. Alles Himmel. Eine Luftspiegelung, die nicht nur vor meinen Augen wogte, sondern von der ich ein Teil war. Sie bildete gleichsam einen Kreis um mich, durchsichtig wie blaues Kristall, und ich stand fest in der Mitte.
»Wir wollen zu meiner Gruppe gehen«, sagte Ken. »Sie sind um diese Zeit im Dôjô – in der Übungshalle.«
Der Pfad, der zum Dorf hinabführte, war nicht steil, aber an manchen Stellen von Gräsern und Kräutern überwachsen. Auf dem saphirblauen Meer zog ein Frachter vorbei. Von der Küste aus schallte Motorengeräusch: zwei Fischkutter, mit großen Metallkörben behangen, näherten sich dem Hafen. Der Wind war ruhiger geworden; wenn sich nicht gerade eine Woge brach, hörte man im Dorf die Hähne krähen. Gerüche von Holzfeuer, Muscheln und Salz wehten über die Bergflanke, und dazu roch es nach Moos und nach allen möglichen Baumsorten, Kiefern und Ahorn und modrigen Eichen. Ein Duftgewebe aus Wasser und Erde, ein warmer Lebenshauch, in den sich ein wenig vom teerigen Geruch der Boote mischte, die im Hafen lagen.
Himesaki zählte knapp tausend Einwohner, zum größten Teil Angestellte der Fischereigenossenschaft und der Küstenwache. Von den jungen
Weitere Kostenlose Bücher