Silbermuschel
Leuten gingen manche nach Ryotsu oder nach Niigata, aber es blieben immer noch genug im Dorf, wo ihre Familien seit mehreren Generationen lebten. Für die Fischer bildete der Octopus- und der Tintenfisch-Fang die wichtigste Einnahmequelle.
Dazu benutzten sie Nylonseile, die unter Wasser an den Schwimmern hingen und je nach Temperatur und Jahreszeit in unterschiedliche Tiefen heruntergelassen wurden. An diesen Seilen waren Behälter aus Ton angebracht, in denen man die Meerpolypen, die sich gern in Löcher verzogen, gefangennahm. Täglich stachen die Fischerboote im Morgengrauen in See und folgten langsam dem Verlauf der Seile. Diese wurden mit Hilfe einer Trossenwinde auf dem Schanzdeck, die ihrerseits eine Rolle drehte, hochgezogen. Das Einrollen der durchnäßten Seile war eine schwere Arbeit; nicht selten kamen die Behälter leer an die Oberfläche. Die gefangenen Octopusse wurden in Körbe geschüttet und der Genossenschaft übergeben, die sie an die Fischgroßhändler verkaufte.
Außer dem Einkaufszentrum, der Post, der Mittelschule und der Fischereigenossenschaft gab es in Himesaki nur wenig moderne Bauten. Das Dorf hatte seine Ursprünglichkeit wohl nur deswegen bewahrt, weil die Beschaffenheit der Küste eine Anhäufung größerer Gebäude nicht zuließ. Fast alle Häuser am Hang waren durch schmale, sich windende Wege oder Steinstufen miteinander verbunden. Fenster und Schiebetüren standen offen; die Sonne schien in die Vorräume und beleuchtete die Schuhpaare, die auf dem Boden aus festgestampfter 443
Erde lagen. Braungebrannte Kinder tummelten sich und schrien um die Wette. An den Hauswänden waren getrocknete Zweige zu Bündeln gebunden und Holzscheite in Schichten aufgestapelt. Vor einem Schuppen stand ein alter Mann breitbeinig vor einem Hackklotz und hielt eine Axt hoch über den Kopf. Die Axt fiel immer wieder im gleichen Rhythmus herunter. Die Schneide blitzte im Sonnenlicht auf, spaltete ein Holzscheit mit klackendem Geräusch. Jedesmal bückte sich der Alte, bedächtig und geschmeidig, hob beide Stücke auf und legte sie sorgfältig auf einen Haufen.
»Als ich meine Gruppe gründete und einen Dôjô suchte«, erzählte Ken, »sprach ich mit Yoshiyuki Asano darüber. Asano – du weißt, Mitsues Vater – kennt alle Leute. Er ging mit mir zu einem Bootsbauer. Der Mann war schon alt und hatte keinen Sohn, der seine Werkstatt übernehmen konnte. Er war froh, als ich ihm anbot, sie zu mieten, und gab mir freie Hand. Ich ließ die Werkstatt nach meinen Vorstellungen umbauen. Der Bootsbauer vermietete uns auch sein Wohnhaus, ganz in der Nähe. Wir teilten die Räume auf; jetzt verfügen wir über elf Zimmer. Die Schüler leben zu zweit oder dritt in einem Raum oder auch allein, wenn ihnen das lieber ist. Aufenthalts räum und Küche sind gemeinsam.«
Zwischen Beeten mit Raps, Rettich und Lauch waren Frauen, oft mit einem Baby auf dem Rücken, beim Unkrauthacken über ihre Werkzeuge gebeugt. Sie trugen Baumwollhosen und bunte, kimonoartige Jacken. Ein blauweißes Tuch, Tenugui genannt, schützte ihr Haar vor Wind und Staub. Sie nickten uns freundlich zu, als wir vorübergingen, und Ken erwiderte höflich ihren Gruß.
»Haben dich die Einwohner sofort gut aufgenommen?« fragte ich.
Er lachte still vor sich hin.
»Sofort ist übertrieben. Touristen haben auf Sado längst keinen Seltenheitswert mehr. In Verkehrsbüros und Reiseagenturen liegen genug Prospekte herum. Aber Himesaki ist noch sehr furusato.«
»Was heißt furusato, Ken?«
»Furusato bedeutet ›altes Dorf‹, heimatliche Scholle oder Nudelgericht, je nachdem, steht also für alles, was bodenständig ist. Daß wir hier wohnen wollten, fanden die Leute merkwürdig. Heute sind sie sogar stolz auf uns – leider, möchte ich sagen.«
»Wie meinst du das?«
»Unseretwegen wurde Himesaki im Fernsehen gezeigt. Es gab eine Sendung über die hiesigen Kultfeste mit ihrer tiefgründigen sakralen Volkskunst. Für die Einwohner war das ein großes Ereignis; ich jedoch hatte schlaflose Nächte deswegen. Medien sind sensationslüstern. Kraß ausgedrückt: Ich schämte mich, das harte Leben dieser Menschen für unsere Werbezwecke zu mißbrauchen. Aber noch hat sich bei den Fischern eine große Unbefangenheit erhalten. Ich sah das mit Freuden. Von Presseleuten über den Sinn ortsüblicher Bräuche befragt, blieben sie wortkarg. Der eine sagte: ›Das hat man immer so gemacht‹ – der andere: ›Das 444
stammt von früher.‹ Solche
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