Silbermuschel
müssen lernen, damit umzugehen. Du wußtest diese Dinge schon als Kind. Du bist weiser als ich.«
Wenn er so sprach, brachte er mich sofort aus der Fassung.
»Oh, nein, Ken, das willst du mich nur glauben machen! Ich komme mir so hilflos vor, daß ich mich nicht mehr ausstehen kann!«
»Du bist voller Lebenskraft. Für Männer in meinem Alter mag das anziehend genug sein. Ich jedoch meine, es ist leicht, von einer jungen Frau geliebt zu werden, die man lehrt, was man weiß, und die einem die Illusion der Jugend zurückgibt. Das alles ist nichts. Ich lerne von dir ebensoviel wie du von mir. Der Schmerz läßt jene, die ihn erlebt haben, einander erkennen. Du und ich, wir teilen dieses Wissen wie ein Geheimnis. Wir empfangen, was wir geben, und trinken aus einem Becher.«
Er lächelte auf eine so nachhaltige Art, daß ich mein Herz in der Brust klopfen hörte. Als ich sein Lächeln erwiderte, spürte ich das schmerzhafte Ziehen im Unterleib, diesmal so stark, daß ich kurz den Atem anhielt. Aber davon sagte ich ihm nichts.
Die Übungshalle befand sich in der Nähe der Werft, wo die Bootsbauer an ihren Gerüsten arbeiteten. Einige Männer hatten indigofarbene Pluderhosen mit Gamaschen an, andere trugen Jeans und waren halb nackt. Fast alle hatten ein 446
weißes Schweißtuch um die Stirn geknotet. Die Hammerschläge, vom Geräusch der Stimmen oder einem kurzen Gelächter unterbrochen, mischten sich in das Gekreisch einer großen Zahl von Seeschwalben, die in Tauchflügen auf die Wellen hinabprasselten. Wir gingen an schweren Netzen vorbei, die auf dem Strand zum Trocknen aufgehängt waren. Boote waren auf Holzgestelle an Land gezogen worden. Im Gegenlicht glichen sie vogelartigen Skulpturen, alle in einer Reihe, mit dem Bug wie mit Schnäbeln hinaus auf die offene See weisend.
Die ehemalige Werkstatt war mit verrosteten Blechplatten überdacht. Das schwärzliche Holz der Außenwände bildete einen Kontrast zu den hellen Stellen, wo die Bretter erneuert worden waren. Eine Blechwanne stand unter einer Traufe.
Neben der Tür lehnten eine Anzahl Fahrräder. Darüber war eine Holztafel mit drei Schriftzeichen angebracht. Ich wies darauf.
»Was steht da?«
»Amenotori-Fune – das ›Schiff der Heiligen Vögel‹. In unserer Mythologie ist es das Schiff, das zu den Göttern segelt. Aber du kannst es auch als Witz auffassen, nämlich, daß wir alles daran setzen, um uns über Wasser zu halten! «
Der herbe, eindringliche Klang einer Flöte, vom Trommelrhythmus begleitet, schallte nach draußen. Mich überlief es; es war, als würde mein Haar rückwärts gebürstet. Ken stieß die Tür auf. Wir traten in einen Vorraum mit Schuhregalen, in denen alle möglichen ausgetretenen und sandigen Schuhe, Stiefel und Sandalen untergebracht waren. Ein paar Jacken, Pullover und zerknüllte Frotteetücher lagen neben Sportsäcken auf dem Boden verstreut. Weihrauchduft hing in der Luft, und die Musik drang uns verstärkt entgegen. Wir zogen unsere Schuhe aus; Ken bückte sich in seiner flinken Art, stellte die üblichen grünen Plastikpantoffeln vor mich hin. Zwei kleine Stufen führten zu einer Schiebetür auf hölzernen Gleitschienen.
Als Ken sie aufstieß, klemmte sie etwas, bevor sie den Blick auf einen langen, hohen Raum freigab. Der Boden war mit dunklem Parkett ausgelegt, ohne Fenster, ohne Spiegel, dafür mit Neonröhren beleuchtet. An der Decke hingen ein Gong und einige Glockenschnüre. Sämtliche Trommeln waren auf hölzernen Böcken der Größe nach aufgereiht. Beiderseits des Saales standen Bänke, darauf Binsenmatten und flache Kissen. Eine offene Schiebetür zeigte ein kleines Büro mit Schreibtisch, Telefon, Stereoanlage. Daneben befand sich eine winzige Einbauküche. In der Mitte des Übungsraumes standen oder saßen Jungen und Mädchen um zwei Musiker herum, einen Japaner und einen Europäer. Der Japaner, sehnig und straff wie ein junger Panther, kauerte mit bloßem Oberkörper vor einer Trommel, groß wie ein Bierfaß, während der Europäer stand. Er trug einen verwaschenen blauen Trainingsanzug, war groß und kräftig gebaut, vielleicht, wie die etwas mageren Schultern zeigten, allzu schnell gewachsen. Er hatte blasse Haut und tabakbraunes Haar. Er war es, der die Flöte spielte, und die Trommel gab den Takt dazu an. Als wir eintraten, brach die Musik ab. Es entstand ein Gemurmel und sämtliche Augenpaare richteten sich auf uns. Nun sprang die ganze Gruppe auf, drängte sich 447
um Ken mit Zurufen und
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