Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
wahrgenommen. Nun trat ich näher, um es genauer zu betrachten. Es war Isami, kein Zweifel. Den Kopf und den grazilen Hals hielt sie etwas zur Seite geneigt. Ihr fülliges, leicht gewelltes Haar war wie bei Ken aus dem Gesicht gekämmt und im Nacken festgebunden. Mit dem Unterschied nur, daß das ihre in der Mitte durch einen Scheitel geteilt war und ihre hohe Stirn dadurch noch höher erschien. Ihr Gesicht war schmal, die Wangenknochen zart gerundet, der Mund zu einem heiteren Lächeln geöffnet, mit einer Spur von Spott.
    Die Augen, klar und zu den Schläfen hinaufgezogen, von flaumigen Brauen überschattet, waren Kens Augen. Ich trat dichter an die Fotografie heran.
    Lichtfünkchen zuckten im Glas auf; mein Widerschein glitt über Isamis Gesicht; 455
    unsere beiden Bilder verschmolzen. Ich hörte die sanften Geräusche meines Atems, während ich mit Isami sprach.
    »Hier bin ich. Kennst du mich noch?«
    »Glaubst du, ich hätte dich je vergessen?« antwortete sie.
    »Es tut mir leid. Ich war jahrelang im Chaos.«
    »Er auch. Und so übel habt ihr euch gar nicht angestellt.«
    Ich wandte die Augen ab; der Schimmer huschte weg, irgendwohin. Keine doppelte Spiegelung mehr, auch keine Stimme.
    Mein Blick fiel auf den Schreibtisch. Neben Geschäftsumschlägen und Luftpostbriefen lagen einige Polaroid-Aufnahmen. Gruppenbilder von den Musikern auf Tournee. Schnappschüsse. Eine der Aufnahmen zeigte Ken mit einem Mädchen. Eine kleine heiße Welle stieg in mir unter dem T-Shirt den Hals hinauf. Mit behutsamen Fingern nahm ich das Bild, hielt es näher an das Licht der Lampe: Mitsue. Das Foto war in einem Hotelzimmer aufgenommen worden, in den Vereinigten Staaten. New York vielleicht oder Los Angeles. Durch das Fenster waren Umrisse von Wolkenkratzern sichtbar. Mitsue trug Jeans und einen winzigen Büstenhalter aus schwarzer Spitze. Sie war knabenhaft schlank, mit einem ganz flachen Bauch. Auch ihr Haar war kurz geschnitten wie das eines Jungen. Auf ihrem Gesicht, in ihrem Blick lag Unbeschwertheit. Sie lachte in das Objektiv und lehnte sich an Ken. Er schmiegte seine Wange an die ihre und preßte sie mit beiden Armen an sich; genau die gleiche Geste, dachte ich, mit der er mich vor wenigen Augenblicken noch auf der Terrasse gehalten hatte.
    Mitsue. Bisher war sie nur ein Name gewesen. Jetzt hatte sie ein Gesicht. Aber das Bild sagte mir noch etwas anderes: Für ihn war sie mehr als nur ein Abenteuer gewesen. Er hatte etwas für sie empfunden, etwas Tiefes sogar. Die Liebe hat tausend Gesichter. Und eines davon war das ihre.
    Ich legte das Bild dorthin, wo ich es hergenommen hatte, und schlug mir diese Gedanken aus dem Sinn. Mitsue gehörte zu ihm, zu seiner Vergangenheit, zu seinen Erinnerungen, zu seinem Leben. Seinem Leben, in dem ich nur ein Eindringling war. Mit all diesen Dingen, die ich mitschleppte. Dinge eben, die nicht schön waren.
    Ich spürte, wie ich mich am Tischrand festhielt. Der Schmerz in meinem Unterleib war nicht stark, aber dumpf und beständig. Ich ging in die Toilette, zog den Reißverschluß meiner Jeans auf. Dann sah ich das Blut in meinem Slip. Der Schmerz stand mit anderen Dingen in Verbindung; und ebensowenig wie Ken konnte ich diese Dinge ungeschehen machen.
    Ich fühlte das klopfende Blut in mir, eine leichte Taubheit, eine Erschöpfung.
    Blut, das zum erstenmal mein rosa Kleid befleckt hatte, als ich Isamis Buch in den Händen hielt. Blut, das mir jeden Monat in Erinnerung rief, daß ich zerrissen und zerstört worden war. Du liebst mich, Ken. Du liebst eine Tote mit einem Kindergesicht.
    456
    In der Küche stellte ich die Gasflamme an. Ich wartete, bis der Kessel dampfte, nahm eine Serviette in die Hand und goß mir grünen Tee auf. Dann ging ich in das Wohnzimmer zurück; setzte mich in den niedrigen Polstersessel, kauerte mich zusammen, die Beine über die Lehne, stützte den Kopf in die Hand. In der anderen Hand hielt ich den Becher. Der heiße Tee schmeckte würzig, ließ an hohe Gräser, an flüssiges Ambra denken. Das Haus um mich herum vibrierte im Einklang mit dem Meer. Ich trank den Tee aus, schloß müde die Augen.
    Ach, Ken, warum kann ich nicht mehr glücklich sein ohne Vorbehalt? Was ist mir denn abhanden gekommen? Als Kind, siehst du, hat man mir falsche, schlimme Dinge beigebracht. Rückerinnerungen an dunkle Tabus, an die Urängste der Ahnen. Nachklänge religiöser Bannsprüche, degradierende Rituale von jenseits des Mittelmeeres, grausam und beschämend. Einmal im Monat

Weitere Kostenlose Bücher