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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Neonröhren an der Decke sein, die dieses Flimmern auslösten. Der Boden sank nach unten weg, eine dunkel schimmernde Fläche. Alles war so luftig, so weich, so anders und schwebend und wunderbar. Und dann auf einmal – Stille. Die Trommel schwieg. Meine Augen klärten sich; ich sah, wie Ken die Hand hob, als schnitte er durch die Luft. Yukichi ließ beide Arme sinken, legte die Schlegel behutsam auf den Boden. Eric sendete mit seinem Hauch einen letzten, kaum hörbaren Tonfaden aus, bevor er das Mundstück von den Lippen nahm. Die Stille machte, daß ich mich ein paar Sekunden lang nicht rührte; irgend etwas war in mir, das sich erst langsam wieder formen und festigen mußte. Doch diese Stille dauerte nur kurz; Stimmengewirr und Gelächter brachten mich wieder in die Wirklichkeit zurück. Die Musiker applaudierten, als sei das Ganze nur eine vergnügliche Spielerei, ein Zeitvertreib gewesen. Ken streifte sich seinen Pullover wieder über und gab Eric einen freundschaftlichen Klaps auf den Hinterkopf. Eric lachte etwas verschämt; er war noch außer Atem. Kleine Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn.
    »Alles in Ordnung, Eric«, sagte Ken heiter. »Du machst es nach wie vor gut.
    Du bist sogar besser geworden!«
    Der Unterricht war zu Ende. Die Musiker zogen sich um, schlüpften in ihre Schuhe. Draußen versammelte sich die ganze Schar; zum Abschied bewegten alle die Hände von einer Seite auf die andere und riefen im Chor: »Bye, bye!« Dann schlenderten sie in kleinen Gruppen über die Werft. Einige befestigten die Sportsäcke auf den Gepäckträgern ihrer Fahrräder. Soon und Eric gingen Hand in Hand davon. Hiro knipste das Licht aus, zog alle Schiebetüren zu. Er schloß die 452
    Eingangstür, verneigte sich eilig. Dann lief er zu einem Wagen, setzte sich ans Steuer und fuhr davon, daß die Reifen quietschten. Ken grinste.
    »Er hat eine neue Freundin in Ryotsu.«
    »Mir gefällt die Art, wie ihr arbeitet«, sagte ich. »Alles sieht so entspannt aus.«
    »Wir bemühen uns eifrig, diesen Eindruck zu erwecken.«
    »Wer ist eigentlich dieser Eric?« fragte ich.
    »Ein Naturtalent. Vor drei Jahren hörte ich ihn in der Metro von Paris spielen und gab ihm eine Freikarte für unsere Vorstellung. Nach der Show kam er hinter die Kulissen und flehte mich an, ihn in meine Gruppe aufzunehmen. Er stammt aus Lüttich. Eine chaotische Jugend: Die Mutter ist ein ehemaliges ›Blumenkind‹ –
    Kabul und Katmandu –, der Vater ein Alkoholiker. Der ältere Bruder hat Aids. Ich besuchte Eric in seinem Zimmer in der Rue Saint-Denis, wo er mit zwei kaputten Typen lebte. Ich sah die Matratzen am Boden, die Spritzen, den Dreck überall.
    Aber ich sah auch, wie er sich verwandelte, sobald er Flöte spielte, wie dann die Sonne aus seinen Augen schien. Verrückt, wie ich nun einmal bin, streckte ich ihm das Reisegeld vor und sagte: ›Okay, du kannst kommen, aber nur, wenn du clean bist. Wie du das schaffst, ist dein Problem, ich mische mich da nicht ein.‹
    Daraufhin setzte ich das Geld auf das Verlustkonto und vergaß ihn. Plötzlich ein Anruf aus Tokio: ›Ich bin da!‹ Seitdem ist er bei uns. Drogen? Nicht einmal mehr im Traum. Ich will nicht krepieren, sagt er, ich will Musik machen. Jetzt war er wieder in Europa. Sein Bruder liegt im Krankenhaus, die Mutter ist geschieden, geht ihre eigenen Wege. ›Scheiße, sie hätte doch wenigstens einmal da sein können, wenn ich sie schon mal besuche‹, sagte er vorhin zu mir. Sein Zuhause ist jetzt hier, in Himesaki. Er lebt mit Soon zusammen. Soon ist Koreanerin und in London aufgewachsen. Sie tanzte Raymonda im Covent-Garden-Ballett und brach sich den Fuß. Tanzen konnte sie noch, aber nicht mehr in Spitzenschuhen. Sie war in einem totalen Tief, als ich sie fragte, ob sie bei uns mitmachen wolle. Auf der Bühne ist sie wunderbar, leicht wie eine Feder.«
    Unter den Kiefern waren die Schatten schon dicht, aber Ken hätte den Weg mit geschlossenen Augen gehen können. Er faßte mich bei der Hand, führte mich behutsam über Steine und Wurzeln den Pfad hinauf, der zum Haus führte. Bald verschwand die Sonne hinter schwarzen Wolkenbänken, das Meer schimmerte orangerot. Die kleinen Ankerlaternen der Fischkutter blinkten, und überall im Dorf gingen die Lichter an.
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31. KAPITEL
    A ls wir das Haus erreichten, war die Oberfläche des Walsers lila, und die ersten Sterne funkelten. In den Büschen zirpten Grillen; der laue Wind brachte eine Frische mit, die Lust zum Träumen weckte,

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