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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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schwindende Schatten. Ich drückte die Schale an meine heiße Stirn und seufzte. Das Reden über solche Dinge hatte mich stets in Verlegenheit gebracht.
    »Sei ruhig und hör mir zu«, sagte Ken. »In früheren Zeiten glaubten wir, daß jedes Mädchen einmal in ihrem Leben über besondere Heilkräfte verfügt. Dies geschah, wenn ihre Blutung zum ersten Mal einsetzte. Man errichtete ihr eine besondere Schilfhütte, wie für eine Gottheit. Dort wachte sie vier Tage und vier Nächte lang. Dieser Zustand Komoru – ›Sich-Zurückziehen‹ genannt –
    symbolisierte den Tod und die Wiedergeburt der Natur. Am vierten Morgen betete das Mädchen die aufsteigende Sonne an, streute Blütenstaub in alle vier Himmelsrichtungen und galt als neu geboren. In diesem Zustand der Ur-Unschuld konnte sie Wunden heilen und Kranke gesund machen. Und manchmal kam es vor, daß sie auch nach der Zeremonie ihre Heilkraft bewahrte. Sie fühlte sich zur Wanderpriesterin berufen und wurde besonders unterrichtet. Und später dann reiste sie von Dorf zu Dorf, segnete die Ernte, rief den Regen herbei und übte überall ihre Heilkräfte aus. So war das bei uns in alten Zeiten. Erst viel später verdrängte der aus China kommende Buddhismus diesen Glauben an die Sakralität des weiblichen 460
    Blutes. Etwas ist davon übriggeblieben: Jeder japanischen Frau im Berufsleben stehen gesetzlich zwei bezahlte Urlaubstage im Monat zu. Aber nur wenige machen davon Gebrauch. Und Europäerinnen sehen darin eine Benachteiligung statt ein Vorrecht. Solche Dinge kann man ja auslegen, wie man will.«
    Er nahm einen Schluck und grinste.
    »Soll ich lieber das Thema wechseln?«
    »Nein. Du kannst davon reden, wenn du möchtest. Ich glaube, ich bin schon betrunken. Mir ist so heiß«, stöhnte ich.
    »Du scheinst aber zu frieren.«
    Ken nahm meine Schale und füllte sie erneut.
    Ich nahm ein paar Schlucke. Wärme rieselte mir in die Kehle, in die Brust, durch den ganzen Körper. Mir war, als fühlte ich in mir das Meer, sein ruhevolles Heben und Senken. Ken schmiegte sich mit dem Rücken an meine Knie; seine Haut unter dem T-Shirt war so warm wie die meine.
    »Bist du mir böse?« fragte er leise.
    »Du hast immer so komische Einfälle«, flüsterte ich. »Und ich, ich höre dir zu.«
    »Ich kann’s nun mal nicht lassen.«
    Er hob den Arm, umfaßte meinen Hals und zog mich zu sich auf die Matte. Er sprach weiter, nahe an meinem Ohr.
    »Im Kojiki – unserer Heiligen Schrift – wird berichtet, wie Prinz Yamato Takeru seine Verlobte, Prinzessin Miyazu, besucht. Die Prinzessin hat gerade ihre Menstruation: Ihr Untergewand zeigt einen roten Fleck. Daraufhin verfaßt der Prinz ein Gedicht:
    ›Vor dem heiligen Berg Kagu, lichtbeschienen,
    Gleitet ein Kranich wie ein blanke Sichel,
    Deine weichen weißen Arme sind mein Kissen,
    In denen ich schlafen werde,
    Und am Saum deines Gewandes, siehe, geht der Neumond auf.‹
    Und Prinzessin Miyazu antwortet mit folgendem Gedicht:
    ›O Prinz der leuchtenden Sonne,
    Edler und großer Herr!
    Der neue Mond kommt und geht,
    Lang und mühsam war mein Warten auf dich.
    Nun aber scheint am Saum meines Gewandes
    Der segenspendende Neumond.‹«
    Ich hatte die Augen geschlossen. Jetzt schlug ich sie auf und sah ihn an. Das 461
    Geräusch des Meeres kam und ging, wie unsere Atemzüge.
    »Das ist schön, was?« flüsterte ich.
    »Ja, das finde ich auch.«
    Er tauchte seine Fingerspitzen in den Reiswein und legte sie dann auf meinen Mund. Meine Lippen umschlossen seine Finger, lutschten daran, wie ein Kätzchen es tun würde.
    »Das Tabu des Blutes«, sagte er, »kommt von der Angst der Männer vor der weiblichen Lebenskraft. Die Frauen sollten zu ihrem Besitztum gehören, wie ihr Land, ihre Häuser, ihre Herden. Sie wurden verschleiert und eingesperrt, mit Verboten und Bannsprüchen geknechtet. Ihre Stärke empfanden sie als Schwäche, ihr segenspendendes Blut als unrein.«
    Er lag, auf den Ellbogen gestützt, da und hob die Schale dem Licht entgegen.
    »Sie ist schön, nicht wahr? Rot wie eine Frucht, wie das Blut, wie die Sonne.
    Ich meine, daß sie wohl ein Kunstwerk ist.«
    »Bestimmt«, sagte ich.
    Er nickte, drehte die Schale in seinen Fingern hin und her.
    »Sie dient als Gefäß für den Reiswein, die Essenz der Lebenskraft. Und ebenso wurde die Frau als Gefäß für das werdende Leben geschaffen. Sie ist eine Verkörperung des Geistes, atmende Substanz, wundervoll zu berühren. In ihr leben die Gezeiten, die Ahnen. Ihre Bestimmung

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