Silbermuschel
einen eindringlichen Duft nach Geißblatt, Harz und Seetang. Ken stieß die Tür auf, machte Licht. Das erste, was ich bemerkte, waren Mitsues Ölmantel und die Stiefel. Ken sah auch hin und runzelte die Stirn.
»Ich dachte, daß sie die Sachen inzwischen geholt hätte.«
»Ach, Ken, sei nicht wütend. Du kannst sie doch nicht einfach an die Luft setzen.«
Er schlug mit der Zunge gegen den Gaumen.
»Nein, das kann ich nicht. Aber in diesen Dingen werde ich mein Leben lang ein Idiot sein.«
Er ging in den Raum, in dem er seine Sachen aufbewahrte, und holte einen Koffer. Dann zog er die Schublade auf, nahm Mitsues Sachen heraus und packte sie ein. Er warf die Kleidungsstücke nicht achtlos in den Koffer, sondern faltete jedes einzelne sorgfältig, fast liebevoll zusammen. Ich merkte, daß er das Mädchen nicht kränken wollte. Dann kam er aus dem Badezimmer zurück, wobei er den Reißverschluß eines kleinen hellblauen Toilettenbeutels zuzog. Schließlich stopfte er Ölmantel und Stiefel in eine Plastiktasche und schloß den Koffer mit den Worten:
»So. Morgen bringe ich ihr die Sachen zurück.«
Das Telefon läutete. Ich fuhr zusammen. Ken ging in sein Arbeitszimmer und nahm den Hörer ab. Seine Stimme klang ruhig, aber eine Spur belegter als sonst.
Durch die offene Tür sah ich ihn an den Schreibtisch gelehnt, den Kopf geneigt und den Hörer mit der Schulter festklemmend. Ich wandte mich ab, zog die Schiebetür auf und ging nach draußen. Die salzige, kühle Luft roch nach Holzfeuer. Aus den Häusern am Hang schimmerte schwaches Licht, und Sternenglanz lag auf dem Meer. Ein Nachtvogel rief sachte und perlend, als ob Wassertropfen aus seiner Kehle rieselten. Die Brandung ließ lange, schwere Atemzüge hören. Nach einer Weile sah ich einen Schatten hinter mir; im Gegenlicht trat Ken aus dem Zimmer. Er stellte sich dicht hinter mich, umfaßte mich mit beiden Armen.
»Sie will, daß ich zu ihr komme.«
»Wann?«
»Jetzt gleich.«
Ich schwieg. Mir war, als hätten seine Worte eine weite Strecke zu durchlaufen, bis sie bei mir ankamen. Dann sagte ich:
»Du mußt natürlich gehen.«
»Das glaube ich auch. Da kann ich ihr das sagen, was ich sagen will. Und ihr 454
auch gleichzeitig die Sachen bringen.«
Ich fühlte wieder den Schmerz in meinem Bauch, jetzt viel intensiver. Ich schluckte.
»Gut.«
Er drehte mich sachte um. Das Licht aus der Fenstertür blendete mich, doch nur kurz. Kens Gesicht, an das meine geschmiegt, löschte die Helle aus. Seine Lippen wanderten über meine Stirn, über die Lider, schlossen sich über meinem Mund. Ich trank seine Wärme, spürte sie durch alle Poren meiner Haut. Er legte beide Hände auf mein Kreuz, drückte mich an sich und ließ mich wieder los.
»Es wird nicht lange dauern«, murmelte er.
Er zog seine Lederjacke an, schlüpfte in seine Turnschuhe und ging. Den Koffer nahm er mit. Ich hörte, wie draußen der Motor ansprang. Das Licht der Scheinwerfer huschte durch die Nacht. Die Maschine fuhr den Weg hinab, schneller als sonst, schien mir. Dann entfernte sich das Knattern. Alles wurde still.
Ich war allein, doch nicht einsam: In diesem Haus war etwas, das mich schützte.
Das Licht der Stehlampe schien seltsam sanft; das Rauschen der Brandung klang wie aus einer fernen, sehr fernen Muschel. Lautlos wanderte ich durch den Raum.
Die Matten mit dem frischen Frühlingsduft schmiegten sich an meine bloßen Füße.
Ich wollte, daß alle Gegenstände mich kannten, mich liebten. Behutsam strich ich mit der Hand über die Möbel. Die Schiebetür zu Kens Arbeitszimmer war offen; er hatte das Licht brennen lassen. Scheu trat ich ein, strich mit der Handfläche über den Schreibtisch, den Stuhl, den Computer. An der Wand waren mit Heftzwecken und Klebestreifen zwei Kalender, Landkarten und alle möglichen Zettel, Presseberichte und Farbfotos befestigt, Momentaufnahmen von den Vorstellungen.
Ich dachte an meine Arbeit als Bühnenfotografin; auf einmal packte mich die Lust, diesen wirbelnden Bewegungsablauf in eigenen, besseren Bildern festzuhalten.
Diese Schwingungen in mir, diese Helligkeit, dieses pulsierende Lebenwollen, wann hatte ich sie das letzte Mal gefühlt? Vor langer, langer Zeit vielleicht, in den ersten Jahren meines Lebens, in der Ekstase der Kindheit, im grünen Schatten des Kastanienbaums. Nun waren sie wieder da. In einem altmodischen Messingrahmen hing das schwarzweiße Porträt einer Frau. Als Ken mir die Zimmer zeigte, hatte ich das Bild nur flüchtig
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