Silbermuschel
ich zuwenig verstanden und auch zuwenig gefühlt. Erst jetzt begann ich zu begreifen. In der Zeitspanne einiger Atemzüge, als sie meine Hand auf ihre Augen legte, hatte sie meine nackten Gefühle berührt und alles von mir erfahren. Mein betäubter Geist näherte sich nur langsam der Erkenntnis, daß sie mir mit der Muschel das Geschenk ihrer uralten Weisheit gemacht hatte, ein Zeichen für die Zukunft, ein Versprechen.
»Ist das wirklich wahr, was du gesagt hast? Daß sie einst eine Priesterin war?«
So leise ich auch gesprochen hatte, er hörte mich und nickte.
»Sie dient nicht mehr im Schrein. Aber sie ist nach wie vor mit den Göttern verbunden.«
»Ken, weiß sie eigentlich, was ich bin?«
Ich hatte nicht gesagt: wer ich bin. Doch er hatte verstanden. Stumm und 472
zärtlich griff er nach meinem Haar, füllte beide Hände damit. Ich starrte ihn an, eingeschüchtert und aufgewühlt. Während er mich küßte, klammerte ich mich an ihn, als ob er mir entrissen werden könnte. Nach einer Weile löste er sanft die Lippen und sagte halblaut:
»Ja, sie weiß es. Sie kann es dir sogar erklären. Und besser als ich. Sie hat mir geholfen, die Dinge in meinem Kopf zu ordnen. Was ich heute zu wissen glaube, weiß ich von ihr. Und wenn ich auch nicht viel davon behalten habe – gerade genug, um in der Dunkelheit vertrauensvoll die Hand auszustrecken –, so hilft es mir doch zu leben. Sie hat schon recht, ich hatte eine lange Leitung. Gewisse Dinge, die sie mir beibrachte, kamen mir widersinnig vor. Ihre Bedeutung dämmerte mir erst später. Ich sah erst nach und nach ein, wieviel ich ihr zu verdanken habe.«
In seinen Worten spürte ich eine Art amüsierter Herablassung dem eigensinnigen, impulsiven Menschen gegenüber, der er gewesen war. Meine Ängste verließen mich, lösten sich auf wie der Nebel. Mit jedem Atemzug wurde es heller in mir. Ich empfand keine Furcht mehr vor Kimiko. Ich wußte, einst war sie die Führende, die Unterweisende gewesen; ihr Wissen hatte Ken so geformt, wie er war. Er jedoch, der Lernende, hatte nun seine eigene Weisheit erfahren. Sie waren auf einer Stufe angelangt, auf der Lehrerin und Schüler nicht mehr zwei, sondern eins waren. Die Dankbarkeit jedoch blieb, in Stolz und Verehrung umgewandelt, unantastbar. Die alte Frau hatte ihm etwas gegeben – etwas Grenzenloses und Unermeßliches –, das er ewig bewahren würde. Und er würde in die Weite schauen und diese Geheimnisse kennen, auch wenn sie selbst längst zu Staub und Schatten geworden waren.
Am Nachmittag fuhr Ken mit mir nach Ryotsu zu einem Juwelier. Er ließ die Muschel mit einer silbernen Legierung veredeln und suchte für mich eine Perlenkette aus, an der man sie mit einem Ring befestigen konnte. Für die kühle Vollendung der Zuchtperlen hatte er wenig übrig. Er liebte das kapriziöse Formenspiel der Barockperlen, ihre schillernden Rosa- und Grautöne. Als ich zwei Tage später das Schmuckstück in Empfang nahm, stockte mir der Atem vor so viel Schönheit: Die Muschel, ganz in Silber eingefaßt, hing an den Perlen wie eine kostbare Blume an einer Blütenranke. Ken legte mir die Kette um den Hals, knöpfte eigenhändig den Verschluß zu. Dann hielt er mir einen Spiegel hin, damit ich mich sehen konnte, und nickte zufrieden.
»Schön!« stellte er fest.
Die Silbermuschel, die Ken für mich anfertigen ließ, sprach zu mir in der lebendigen Sprache der Liebe. Die Perlen lebten und atmeten auf meiner Haut; sie entfalteten ihre Lebenskraft aus der Tiefe des Meeres, spiegelten die Reinheit einer Vision wider, die mich aus meiner Erstarrung befreit, mein Herz durch Wärme und Liebe verwandelt hatte.
Wir entdeckten unsere gemeinsame Freude an langen Spaziergängen. Ken 473
zeigte mir die Insel; wir fuhren mit dem Motorrad und hielten an, wo es uns gefiel.
Auf Sado wechselte das Wetter ebenso überraschend wie der Wind. Blies er aus Südwesten, setzte sofort schwere Dünung ein. Regenwolken schwebten tief über dem Meer, und Nebel verhüllte die Bucht. Doch Ken liebte den sachten Regenfall im Frühling, lauschte besonders gern dem Rieseln der Regentropfen im Wald; dieses Geräusch war ihm ebenso vertraut wie das Singen der Vögel, das Summen der Insekten, das Wispern der Zweige im Wind.
Wir brachen immer früh auf, wenn das bleiche Morgenlicht den Himmel überzog. In Gummistiefeln und Regenmänteln wanderten wir inseleinwärts durch Fichten- und Kiefernwälder, die der Regen in eine Welt von Plätschern und Raunen und
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