Silbermuschel
ihnen waren interessante Menschen; solche, die kein Verlangen kannten, großzutun, die einfach die Schönheit des Ortes gepackt hatte. Sie hatten nicht die Unbefangenheit der Japaner, sie waren zumeist schwermütig. Doch sie waren keine Menschen, deren Geist starr war.
Ken brachte mich mit einigen dieser Leute zusammen; ihm selbst lag wenig daran, solche Bekanntschaften zu vertiefen, doch er wollte nicht, daß es mir an etwas fehlen würde. Er merkte recht bald, daß auch ich wenig Interesse am mondänen Geplänkel aufbrachte. Uns bewegte ein gemeinsamer Wunsch nach Stille.
Ken führte mich zum Heiligtum der Sayori-Hime, hoch über den Klippen. Die korallenroten Pfosten des Portals waren frisch gestrichen und leuchteten wie ein geheimnisvolles Traumbild aus dem Walddunkel hervor. Wir benetzten unsere Hände an der Quelle und wanderten die flache Steintreppe hinauf, die durch den heiligen Eichenhain zum Schrein führte. Die Bäume waren uralt, und die 475
schlangengleichen Wurzeln hatten an vielen Stellen den Boden durchbrochen.
Überall an den Zweigen hingen wie kleine Schneebüschel weiße, zum Teil schon zerfetzte Orakelzettel.
»Die Bewohner von Himesaki sagen, der Hain sei so alt wie die Insel«, erzählte Ken. »Manche Bäume sind bis in die Wurzeln vermodert, aber kein Holzhacker würde es wagen, sie zu fällen. Alles, was auf diesem Berg wächst, ist Eigentum der Göttin.«
Am Fuß der Klippen war das Wasser so tief, daß seine Farbe ins dunkle Grün hinüberspielte. Die Strömung brauste unaufhörlich, mit dem Rauschen der hohen Baumkronen vermischt. Das Heiligtum stand in einer runden, felsigen Lichtung.
Der Schrein war auf einem Sockel aus wuchtigen Steinblöcken errichtet worden.
Wind, Regen und Salzgischt hatten das Holz brüchig und schwärzlich werden lassen. Die moosigen Stufen führten immer weiter aufwärts, bis zu den offenstehenden Türflügeln, über denen die armdicke »Schnur der Läuterung«
befestigt war. Die mächtigen Verlängerungsbalken und das Schrägdach, mit gepreßtem Schilfstroh belegt, gaben dem Bauwerk das seltsame Aussehen eines Riesenantlitzes, das dunkel und still auf mich herabsah. Ich fröstelte, nicht aus Angst, sondern aus Ehrfurcht: Kein anderer Ort auf dieser Welt konnte mir mehr bedeuten.
Wir nahmen einige Geldstücke hervor, warfen sie in den Opferstock. Dann zogen wir an dem Seil, an dem die Glocke am Dachfirst befestigt war. Das Läuten dröhnte hell durch die Stille. Wir schlugen zweimal in die Hände. Einige Atemzüge lang standen wir mit gesenktem Kopf da, hielten in stiller Selbstvergessenheit Zwiesprache mit dem Geist, der hier wohnte. In der Stille der Lichtung umarmten wir uns, sprachen leise zueinander. Unsere Augen wollten nichts anderes sehen als Harmonie und Frieden.
Nachmittage in der Übungshalle. Das Dröhnen der Trommeln, von einer Tonart zur anderen übergreifend, brandete gegen die Holzwände. Die jungen, geschmeidigen Körper der Musiker folgten dem Rhythmus; sie unterwarfen sich der Verzauberung der Trommeln, doch nie mit umnebeltem Bewußtsein. Im vollen Besitz ihrer physischen und seelischen Kräfte ließen sie es zu, daß die Musik sie über jene Schwelle trug, wo das Ich sich selbst vergißt und der Rhythmus aus dem tiefen Fieber des Blutes steigt. Stets jedoch kontrollierten sie mit gegenwärtigem Geist die tanzenden Schlegel, lenkten sie durch alle Phasen der Töne, vom atemberaubenden Brummen bis zum schwingenden Diskant. Ich fühlte, hier war harte Arbeit und eiserne Disziplin, aber auch Sinnlichkeit und jugendliche Lust und Freude im Spiel. Ein besonderes Vergnügen machte mir das Zuhören, wenn Ken oder Hiro den Wechselrhythmus mit jenen kindlichsuggestiven Lautmalereien angaben, von denen es in der japanischen Sprache nur so wimmelt: Die Tempoangaben für die flachen Trommelschläge wurden mit Händeklatschen und mit den Lauten Pampampam umgesetzt, der Grundrhythmus mit Dondonkakka.
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Der Ausruf Chirin, chirin leitete das Klingeln der Triangel ein, während der eigentümliche Wortlaut Pii Hyarara den Einsatz der Flöte markierte. Alle diese Tonanweisungen wirkten niemals formal und einstudiert. Sie entwickelten sich aus einem Wechselspiel, das den Eindruck einer völligen Improvisation erweckte, was es gleichwohl nie war, und die größte physische Anstrengung in scheinbar müheloses Tun verwandelte.
»Europa?« sagte Eric zu mir. »Fertig. Abgeschrieben. Meine Mutter dreht durch, mein Bruder liegt fast auf dem Friedhof. Ich
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