Silbermuschel
vor mir, daß ich ihren Atem spürte. Ihre Augen verengten sich und glänzten und sahen mich nicht mehr: Sie blickten nach etwas anderem. Sie schwieg, doch es war eine Sprache in ihren Augen, eine Sprache jenseits der Worte. Auf einmal nahm sie meine Hand, legte meine Finger flach auf ihre geschlossenen Lider. Ich fühlte ihre Hand, warm und fest, doch gleichzeitig auch ihre Haut, feucht und kühl vom Meereswind. Ihre Wimpern zuckten an meiner Handfläche; ihre Augäpfel rollten unter den Lidern, ich konnte die Bewegung spüren. Auf einmal ließ sie meine Hand los – vielmehr, sie warf sie in die Luft, als ließe sie einen Vogel fliegen. Sie öffnete die Augen und begann im gleichen Atemzug heiser und überstürzt zu reden. Ihre Pupillen, leicht hin und her schwankend, schienen auf Gedankenbilder gerichtet, die ausgesprochen werden mußten, bevor sie ihrem Sichtfeld entschwanden. Ich fühlte, daß diese Visionen meine eigene innere Landschaft einschlossen, für Kimiko sichtbar geworden wie ein Bilderbogen. Eine plötzliche Schwäche überfiel mich; ich stand wie unter einem Schock. Über unseren Köpfen schrien Seeschwalben, schrill, unaufhörlich, ohrenbetäubend. Ihr Kreischen brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich atmete tief durch; meine Übelkeit ließ nach. Ken lauschte den Worten der alten Frau, weder erstaunt noch beunruhigt.
Mir kam in den Sinn, daß er so etwas schon oft bei ihr erlebt haben mußte. Als sie Atem holte, blieb jedoch, während er sich mir zuwandte, ein leichter Schatten auf seinem Gesicht zurück.
»Kimiko geht an viele Orte, hier oben.«
Er zeigte auf seine Stirn.
»Sie sagt, einst sei dein Fühlen wie Rost in die vereiste Erde gesickert. Jetzt aber sei Frühling, sie könne das frische Gras riechen.«
Ich schluckte, bevor ich wieder sprechen konnte.
»Entschuldige, ich bin etwas durcheinander. Ist das alles, was sie gesagt hat?«
Er antwortete nicht gleich. Sein Blick hob sich zu den Seeschwalben, die laut schreiend höher stiegen und kleiner wurden. Er verfolgte sie mit den Augen; ein tiefer Atemzug hob seine Brust. Dann brach er den Bann.
»Nein. Sie hat auch von mir gesprochen. Sie sagte, bald stünde die Zeit still.
Nicht länger als einen Atemzug, aber ich müsse bereit sein. Etwas würde dann von mir gefordert werden.«
Seine Worte klangen in mir noch tiefer als die Worte der alten Frau; tiefer, als meine Gedanken folgen wollten. Wind und Sonnenlicht blendeten mich.
»Was denn, Ken?«
Geistesabwesend sah er mich an, mit einem Stirnrunzeln und einem halben Lächeln.
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»Ich fürchte, das muß ich selber herausfinden. Und das ist etwas, das nur ich allein tun kann.«
Der verschwommene Ausdruck war aus Kimikos Augen gewichen. Sie kratzte sich ungeniert unter der Jacke. Plötzlich lächelte sie. Ihr Lächeln gab ihrem Gesicht einen Ausdruck, der weder mit ihrem Alter noch mit ihrem wahren Aussehen in Einklang stand: Es war das Lächeln einer schönen, selbstbewußten Frau. Sie bückte sich, geschmeidig wie eine Halbwüchsige, nahm etwas aus ihrem Eimer und legte es in meine Hand: Es war ein Muschelhorn, spiralförmig gewunden, außen cremefarbig und innen fast korallenrot. Die hauchdünne, wellenförmige Maserung wies nicht den kleinsten Sprung auf. Sie war vollendet geformt, von der Brandung unzähliger Jahre zu einer Rosenknospe geschliffen, kühl und rein und duftend wie das Meer. Ich bedankte mich, amüsiert und gleichwohl bewegt, denn ich ahnte, daß etwas Tieferes hinter dieser Geste verborgen war als nur die scherzhafte Gabe einer alten Frau.
»Kai«, sagte sie. »Muschel!«
Sie fügte grinsend ein paar Worte hinzu. Dann nahm sie ihren Eimer und schlurfte davon. Kens Blicke folgten der kleinen Gestalt, die sich am Rand der Wellen entfernte. Mir war, als schicke er ihr seine Empfindungen nach – eine Mischung aus Belustigung, Zuneigung und Rührung, bevor er sich wieder mir zuwandte.
»Was hat sie zuletzt gesagt?« fragte ich ihn.
Seine Augen funkelten amüsiert.
»Ach, sie äußerte lediglich den Wunsch, die Muschel möge dir Glück bringen.«
Ich blickte ihn fragend an. Sein Lächeln verschwand. Er nahm mir behutsam die Muschel aus der Hand, um sie genauer zu betrachten, und sprach in nachdenklichem Ton, wie zu sich selbst.
»Die Muschel ist wie der gebärende Mutterschoß, das Zeichen der Wiedergeburt, des ewigen Lebens…«
Er hob den Blick und sah mir ins Gesicht. Mir stockte der Atem in der Kehle.
Von dem, was Kimiko mir gesagt hatte, hatte
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