Silbermuschel
Als ich nach einer Weile zur Sonne hinschaute, hatte sich der Flammenbusch in eine purpurne Kugel verwandelt, wie ein Traumbild dort schwebend, wo Himmel und Meer zusammenflossen. Hastig kletterte ich weiter. Ich durfte keine Zeit mehr verlieren. Bald wurde es Nacht, und unter dem Gipfel begann wieder ein Waldstück. Plötzlich blieb ich fasziniert stehen: Ein Leuchtstreifen erschien am Horizont, blitzte auf wie ein Edelstein und überzog die See mit glitzerndem Schaum. Immer heller und breiter entfaltete sich das weiße Leuchten. Noch bevor die Sonne ganz verloschen war, stieg der Vollmond in geisterhafter Schönheit am Himmel hoch. Und für einen Augenblick der Stille, der Ruhe, des Innehaltens unterbrachen beide Gestirne ihren Lauf, sahen sich im magischen Gleichgewicht beiderseits des Meeres entgegen. Sie hatten den gleichen Umfang, die gleiche Größe, doch ihre Farbe war Gold und seine blinkendes Silber. Dann verschwamm die klare rote Kugel, ließ sich fiebrig pulsierend in dunkle Tiefen gleiten, während der Mond in stählernem Glanz von seinem Reich Besitz nahm. Die Nacht kam; und sie kam schnell. Mit zunehmender Dunkelheit nahmen Bäume und Büsche seltsame Formen an. Der Mond funkelte durch die Zweige; ein ständiger Strom von Geräuschen, Knacken, Knistern und Prasseln erzeugte im Dickicht eine geheimnisvolle Sprache der Nacht. Von Zeit zu Zeit wurde unter dem Flüstern und Raunen ein hohles Klopfen, ein spitzer Schrei, ein heiserer Ruf hörbar. Doch ich spürte keine Angst.
Die Bäume – hauptsächlich Kiefern und alte Eichen –, die hoch über meinem Kopf aus dem Dickicht ragten, gaben mir das Gefühl, durch eine unwirkliche 521
Kathedrale zu wandern. Die phosphoreszierenden Stämme waren die Säulen, die das Schiff stützten, die hochgewölbten Äste bildeten die Arkaden. Die Zweige, hinter denen der saphirblaue Nachthimmel strahlte, zeichneten die komplexen Muster der Fensterrosen nach, während sich die Ranken über mir wie Portale wölbten und die Steine auf dem Pfad marmorgleich leuchteten. Und indem meine Hände die Ranken wie einen Vorhang nach dem anderen öffneten, fühlte ich mich in eine Verzückung versetzt, in der jeder Gedanke ausgelöscht schien. Mein Körper bewegte sich in einer sanften, beharrlichen Strömung, die mich weiterschob, mich langsam den steinernen Stufen und dem verborgenen Gipfel entgegenzog. Da – ein Rascheln von Zweigen, ganz in der Nähe. Schon folgte ein seltsamer Laut, einem langgezogenen Flötenton ähnlich. Es war kein menschlicher Laut und auch keine Musik, sondern ein Ruf, der älter schien als die Welt und den ganzen Raum mit seinem Jubel erfüllte. Es mußte ein Vogel sein, der so rief; wahrscheinlich sogar zwei, denn die Töne wechselten nun ab in schnellem, vibrierendem Stakkato. Nie zuvor hatte ich solche Vogellaute gehört. Was mochten das für Kreaturen sein?
Die Rufe wurden durchdringender, erregter. Ein unwiderstehlicher Zauber zog mich in ihren Bann. Fast ohne es zu wollen, ging ich den Tönen nach. Ich zwängte mich durch die Büsche, klammerte mich an Zweigen fest, schob Ranken auseinander. Ich ging wie in Trance, den Blick auf die Feenschleier des Mondlichts gerichtet, die zwischen den Bäumen schimmerten, unter denen die Rufe bald hier, bald dort ertönten. Plötzlich tat sich vor mir eine Lichtung auf. Am Fuß der schwarzen Tannen funkelte Wasser. Ein Teich? Ein Moor oder Sumpf? Weder das eine noch das andere, sondern ein von der Quelle gespeister, feuchter Bereich, der im wogenden Gleichgewicht zwischen Gräsern, Schilf und Büschen zitterte.
Und in dieser Luftspiegelung des Mondscheins tanzten zwei Kraniche. Ihre hochgewölbten Flügel glichen Muscheln, die von innen her in perlmuttfarbenem Leuchten glühten. Die Hälse bogen sich wie Blumenstengel, auf denen die korallenrot gekrönten Häupter wie Blütenkelche schwebten. Mit schwereloser Anmut zogen sie ihre Kreise, verneigten sich voreinander wie bei einem Ritual oder vollführten, fast auf der Stelle, eine Anzahl kleiner Sprünge, wobei ihre unsagbar zarten Beine die Gräser kaum zu streifen schienen. Und jede Bewegung des grazilen Körpers, jede Neigung des Kopfes wurde von einem jener durchdringenden, jubelnden Triller begleitet. Es mußten Tokis sein, rosa Kraniche, die, wie Ken mir gesagt hatte, nur noch auf dieser Insel vorkamen. Diese zauberhaften Geschöpfe galten als äußerst scheu. Ihnen zu begegnen, sie in ihrem freien Gehege zu beobachten, war nahezu ein Wunder.
Ohne
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