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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Dorf aus der brodelnde Lärmpegel hörbar, dann trug der Wind die Geräusche in eine andere Richtung. Nur noch das Gurgeln der See brach die Stille. Wir gingen Seite an Seite; unsere Finger waren eng verschlungen, unsere Handflächen aneinandergepreßt. Wie Kimiko es verlangt hatte, trug ich weder Büstenhalter noch Gürtel und hatte auch die Bänder aus meinen Turnschuhen entfernt.
    Gleich hinter einem verrosteten Kran begannen die moosigen Stufen, die unter dem Torii hindurch zum Heiligtum führten. Um diese Zeit kamen die letzten Spaziergänger zum Schrein. Ein alter Mann trug ein schlafendes Kind in den Armen. Die Händler hatten ihre Stände abgeräumt und zusammengepackt. Im letzten Sonnenlicht leuchtete das Laub smaragdgrün. Der Hain versank in Schweigen.
    Die Mole war brusthoch und nur zwei Planken breit. An ihrem Ende lagen 519
    einige Ruder- und Fischerboote. Gleich dahinter gabelte sich der Fußweg: Zwischen immergrünen Sakakibüschen, Hagebuttensträuchern und Oleander schlängelte sich der Bergpfad empor. Dort oben, irgendwo am Hang, wohnte Kimiko. Ken hatte gesagt, ich müsse immer nur geradeaus gehen, ich könne ihr Haus nicht verfehlen.
    Er blieb stehen und legte die Arme um mich.
    »Jetzt mußt du allein weitergehen. Du wirst sehen, es ist nicht weit. Kimiko geht die Strecke ein paarmal am Tag. Auch im Winter, wenn Schnee liegt.«
    »Ich werde den Weg schon finden.«
    »Zurück gehst du jedenfalls nicht. In der Dunkelheit ist es gefährlich. Du bleibst bei Kimiko. Morgen früh hole ich dich ab.«
    Wir lächelten uns an, verhalten zwischen Zärtlichkeit und Schmerz. Das, was stets in uns vorhanden war, jedoch verschwiegen, rätselhaft, verschleiert, war jetzt zu glühender Gewißheit und tätiger Dynamik geworden. Wir hatten unsere Liebe lebendig gemacht und sie erkannt, damals, in diesem Theater in Tokio, im gleichen Atemzug, als wir uns sahen und unsere Seelen sich im Nebel der Erinnerung fanden.
    »Hast du Angst?« fragte er leise.
    Ich sah in seine Augen, die Augen eines Wissenden und eines Kindes, sanft und golden wie Honig.
    »Mich friert es ein bißchen im Bauch.«
    Er legte die Hand auf meinen Kopf, ließ die Finger durch mein Haar gleiten. In seinen Augenwinkeln schimmerte etwas, das ich nie zuvor dort gesehen hatte.
    »Warum weinst du?«
    »Es ist nichts«, sagte er, »nur die Sonne.«
    Ich legte beide Arme um seinen Hals. Seine Haut war feucht unter meinen Lippen, als ich ihn wieder und wieder küßte.
    »Ich muß gehen«, stöhnte ich.
    Er drückte mich ein letztes Mal an sich.
    »Paß gut auf dich auf. Bis morgen!«
    Morgen, mein Geliebter, wird anders sein als heute. Wir stehen auf einer schwebenden Brücke, wir sind bereit. Eine kleine Weile noch, ein Augenblick der Furcht, und wir werden ein einziges Wesen sein. Die Kraft und die Macht unserer Liebe wird zu magischer Schönheit aufblühen, unser halber Traum sich in wache Erkenntnis verwandeln. Wir werden dem Tod den Stachel nehmen und dem Teufel seinen Sieg.
    Die Zeit ist nicht mehr, wir wissen nicht, welche ist. Bald wird sie stillstehen –
    nicht lange, für einen Atemzug nur. Aber das wird genügen.
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36. KAPITEL
    N och ging ich im Sonnenlicht, aber die Schatten des Berges warfen sich bereits über die Insel. Der gewundene Pfad war nicht steil, aber mit Kiefernnadeln und moosigen Steinen bedeckt. Weiter aufwärts lichtete sich der Hang; eine kühle Brise streifte mein Gesicht. Unter den Klippen schaukelte das Meer. Die See glitt über den Schwemmgrund hinweg und schlug gischtzersprühend an die Felsen, bevor sie in sich zusammenfiel und Sturzbäche abfließenden Wassers zurückließ.
    Eine Weile führte der Weg an Klippen vorbei, in denen Seevögel nisteten. Bald verschwand der Küstenstreifen aus meiner Sicht. Als ich den Kopf zur Seite warf, verwandelte eine optische Täuschung die See in eine Wasserhülle, die senkrecht in unermeßliche Höhen stieg. Eine blaufunkelnde Wand, in der Luft hängend, von der Kraft der Sonne und des Mondes gehalten. Mir war, als ob ich das Schwingen des Erdensterns in meinem eigenen Körper verspürte. Für ein paar Sekunden trieb ich dahin auf der schwebenden, kreisenden Welt, bis ich plötzlich hustete und merkte, daß ich fror. Das Geräusch meines eigenen Atems brachte mich wieder zu Verstand.
    Die Sonne leuchtete durch die Zweige; sie glich einem brennenden Busch, in dessen Kern ein unentwegtes Flattern pulsierte. Der Abendhimmel war nicht rot, sondern mit einem Opalschleier überzogen.

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