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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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kalten, starrenden Mond auf mich herabstürzte, sagte deine Stimme mir ins Ohr: »Ich bin bei dir!«
    Ich stöhnte:
    »Hilf mir!«
    Ich hatte meine Stimme nicht mehr in der Gewalt. Ich mußte laut geschrien haben. Das Echo meines Schreis kreiste über die dunklen Bäume und schreckte einen Vogel auf, der mit kratzenden Geräuschen und erregtem Piepsen aus dem Unterholz flatterte. Ich kauerte schwitzend und blutend im Gras, aber das Schwindelgefühl ließ nach, sogar die Schmerzen wurden erträglich.
    Dann hörte ich nur noch den Wind, die ferne Brandung und dazu meine eigenen Atemzüge. Mit seltsamer Intensität nahm ich die Gerüche der Gräser, der Baumrinden, der feuchten Erde wahr. Während ich mit jedem Atemzug diese Gerüche tiefer in mich einsog, wurde mir bewußt, daß ich auf etwas wartete.
    Und plötzlich geschah es. Von weit her drang ein dumpfer, schwingender Brummton an mein Ohr. Er wirkte wie ein kurzer, scharfer Aufruf:
    »Hör zu! «
    Und ich, halb betäubt vor Müdigkeit und Schmerzen, erkannte diesen Laut. Es war keine Musik, kein Gesang, kein menschlicher oder tierischer Laut. Und trotzdem sprach Intelligenz aus ihm. Es war nur ein einzelner Ton, dunkel, vibrierend, gebieterisch: der Schall der O-Daiko, der Riesentrommel, den der Meereswind über die Bergflanke trug.
    Ich holte tief Luft. Meine Stimme klang wie die einer Fremden, so schwach und rauh und meilenfern.
    »Ja, Ken! Ich höre dich! Was soll ich tun?«
    Wieder das dumpfe, nachhallende Brummen.
    »Steh auf!« befahl die O-Daiko.
    Ich stützte mich auf beide Hände und versuchte mich aufzurichten. Mein verletztes Bein gab unter mir nach. Mir war, als sei ich am Boden angeschweißt.
    »Ich kann nicht!«
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    Doch die Trommel grollte ihren Befehl durch die Finsternis.
    »Aufstehen!«
    Da nahm ich meine ganze Kraft zusammen, kämpfte gegen die Müdigkeit an.
    Taumelnd kam ich auf die Beine, stolperte, raffte mich erneut auf mit bleiernen Bewegungen.
    »Vorwärts!« donnerte die Trommel.
    Wie eine Schlafwandlerin setzte ich einen Fuß vor den anderen, stellte mit unsagbarer Erleichterung fest, daß mein Knie nicht gebrochen war und ich gehen konnte. Jeder Muskel, jeder Knochen tat mir weh, aber ich mußte meine Aufgabe bewältigen. Und die O-Daiko lenkte und führte mich wie an einem unsichtbaren Seil, ihre Stöße schienen sich meinem Herzklopfen anzupassen, hämmerten und pochten in meinen Adern, steigerten sich allmählich zu einem Stampfen, einem rollenden Auf und Ab, das mir den Atem raubte und mich weinen ließ wie ein Kind.
    »Hör auf, du bringst mich um!«
    Da sandte die O-Daiko ein letztes, gewaltiges Grollen über die Bergflanke.
    Dann wieder Stille. Nur der Wind knisterte in den Zweigen, während die Brandung an die Klippen schlug. Mit beiden Händen strich ich mein verschwitztes Haar aus dem Gesicht; erst jetzt bemerkte ich, daß der Wald sich lichtete. Ich stand auf einer Böschung in hüfthohem Gras, vom Glanz des Mondes übergossen. Er schien mir riesengroß, dieser Mond, weißglühend wie Stahl. Ich badete mein Gesicht in seinem Licht, vernahm meine gepreßten Atemzüge und spürte überrascht, daß ich lächelte. Diese Stille kannte ich; es war die Stille vor dem Orkan. Ich wußte, daß, sobald die Kraft der O-Daiko erwachte, Ken eine Weile die Schlegel ruhen ließ. Er wartete, bis das Trommelfell diese Kraft in sich einsog, langsam und stetig wie ein Schwamm, der sich mit Wasser füllt. Ich atmete die kalte, frische Luft ein, seufzte tief auf, dieses Geräusch war das einzige in dem dumpfen, hohlen Schweigen. Ich fühlte, wie der Mond mich in seinem Licht badete, und versuchte, alle Gedanken auszuschalten. Wahrscheinlich hatte ich die Augen geschlossen, denn die Vision der Riesentrommel rückte plötzlich aus großer Entfernung so greifbar nahe, daß ich einen Herzschlag lang erschrak. War ich das Opfer eines Wahns oder sah ich wahrhaftig die O-Daiko vor mir? Ihre gewaltigen Umrisse löschten das Mondlicht, verdichteten die Finsternis. Ich vermeinte, von einer Menschenmenge umgeben zu sein, hörte jedoch keinen Laut und erkannte auch kein Gesicht. Diese Menschen waren neugierig und erwartungsvoll, und ich hieß sie im Geist willkommen.
    Und plötzlich war mir, als ob Ken mit leichten, federnden Schritten aus der Dunkelheit trete. Ich hatte das Empfinden, er käme auf mich zu. Bis auf seinen weißen Lendenschurz und das weiße Stirnband war er nackt. Sein Gesicht war golden wie Feuer. Das schwarze Haar flutete seinen Rücken

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