Silbermuschel
Wakarimasuka – hast du verstanden?«
Sie betonte ihre Worte mit den ausdrucksstarken Bewegungen ihrer kleinen, aber kräftigen Hände. Gleichwohl bezweifelte ich, ob ich sie richtig verstanden hatte. Oder kam es daher, weil ich so müde war?
»Viele haben Angst vor dir. Vor allem die Männer, ne?«
Sie zwinkerte mir zu, und ich kam mir wie ein ertapptes Schulmädchen vor.
»Nur einer nicht«, sagte ich mit verlegenem Lächeln.
Der Blick unter den halbgeschlossenen Lidern funkelte amüsiert.
»Nein, er nicht. Er – er hat keine Angst. Schon lange nicht mehr. Er ist frei.
Stark wie du. Ihr beide…«
Sie suchte nach dem passenden Wort, fand es nicht und machte plötzlich mit beiden Händen ein Zeichen, das jeder ohne viel Phantasie als obszön erkennen konnte. Die Geste war so unerwartet, daß ich in Lachen ausbrach. Kimiko merkte, daß ich verstanden hatte, grinste breit und schlug sich vergnügt auf die Schenkel.
»Du und er, gut so, ne?«
»Ja«, sagte ich. »Sehr gut.«
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Sie nickte zufrieden. Doch ich merkte, daß sie mir etwas vermitteln wollte, das wesentlich war. Sie hob die Hand und setzte hinzu:
»Ewig!«
Die Hitze schoß mir ins Gesicht. Ich starrte sie an, wortlos und mit pochendem Herzen. Es war schon so, sie wußte alles.
Wieder entblößte das komische Grinsen ihr Zahnfleisch. Sie wippte leicht hin und her.
»Tamashii«, sagte sie.
Ich überlegte. Was bedeutete dieses Wort? Sie sah, daß ich nicht verstand, tippte sich mit dem Finger an die Stirn.
»Kopf?« murmelte ich.
Sie verneinte entschieden.
»Gehirn?«
»Nein. Anders. Nicht nur hier… auch hier und hier…« Sie zeigte auf ihr Herz, auf ihren Mund, auf ihre Augen. Dann ließ sie ihren Arm kreisen, als wolle sie alles – die Nacht, den Berg, den Himmel – mit einbeziehen.
»Geist?«
Sie grinste erfreut.
»Ja! Tamashii. Lebt ewig.«
Durch den Feuerdunst schien ihr Gesicht mit den schrägen Bernsteinaugen und den wohlgeformten Lippen in der Luft zu hängen wie eine Erscheinung. Die Flammen beleuchteten es von unten, hoben die straffen Backenknochen, die ovale Stirnfläche deutlich hervor. Ich lehnte mich zurück und lächelte. Sie erwiderte mein Lächeln. Ihre Zähne waren regelmäßig und für ihr Alter erstaunlich weiß.
»Früher als Kind… da hattest du Angst, ne?«
»Ja. Große Angst. Jetzt vorbei.«
Sie nickte.
»Du hattest Freund. Immer mit ihm gesprochen, ne?«
Ich fuhr mit der Zunge über meine trockenen Lippen.
»Ja«, flüsterte ich.
»Er – immer noch da«, sagte Kimiko.
Ich rieb mir die Schultern mit kreisenden Bewegungen.
»Du – jetzt reden mit ihm«, sagte Kimiko. »Und dann schlafen eine Weile.
Noch zu früh. Feuer nicht bereit. Und jetzt geh. Freund wartet.«
Ich starrte sie verständnislos an. Was redet sie sich da zusammen? dachte ich.
Ich war so müde, daß ich ihr kaum noch folgen konnte. Sie gab ein ungeduldiges Schmatzen von sich, als ob ihr mein begriffsstutziges Verhalten auf die Nerven ginge.
»Kurinoki«, sagte sie.
Mein Herz tat einen Sprung in meiner Brust. Ein Kastanienbaum, hatte Kimiko gesagt. Sie streckte den Arm aus. Ich wandte das Gesicht vom Feuer ab. Einige 531
Atemzüge lang starrte ich nachtblind in die Dunkelheit. Dann sah ich den Baum auf einer Anhöhe stehen. Er mußte schon sehr alt sein. Der Stamm war außergewöhnlich hoch; die Krone, rund wie eine Kuppel, hob sich vor dem Hintergrund des Sternenhimmels ab.
Mein Gesicht glühte. Selbst das Innere meiner Augen schien zu brennen. In meinem Geist kreiste etwas, für das ich keinen Namen fand. Ich drehte mich um und suchte Kimikos Blick. Sie nickte mir lebhaft zu.
»Wakarimasuka? – Verstanden?« wiederholte sie.
»Ja.«
Im Feuer zerplatzte ein Holzscheit mit lautem Sirren, die Asche zerfiel. Kimiko massierte ihre Füße. Das Feuer schimmerte auf ihrem flachsweißen Haar. Jetzt wußte ich, warum ich zu ihr gehen mußte. Ich zog mein Taschentuch hervor, putzte mir die Nase. Als ich wieder zu Kimiko hinüberblickte, gähnte sie wie eine müde Bauersfrau und rieb sich den Rücken.
»Nun geh doch!«
Ich stützte mich auf beide Hände und stand auf. Mein ganzer Körper war steif, mein verletztes Bein schmerzte. Der Puls in der Kniekehle hämmerte, als hätte ein Finger an der Sehne gezupft. Kimiko warf eine Handvoll Reisig in die Glut, während ich aus dem Lichtkreis humpelte. Ich spürte sofort die Kälte; mit jedem Atemzug drang feuchte Salzluft in meine Lungen. Die Nacht war wie schwarzes Wasser, und der
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