Silbermuschel
Widerschein der Flammen eine Gestalt. Kimiko saß regungslos da, mit untergeschlagenen Beinen, reckte den schmächtigen Oberkörper sehr gerade, den großen Kopf sehr hoch. Sie trug ihre wattierte Kimonojacke und die Pluderhosen aus dunkelblauer Baumwolle. Trotz der Kälte war sie barfuß, ich sah ihre Strohsandalen neben dem Feuer stehen.
Mir fiel auf, daß ihr Haar nicht wie üblich im Nacken geknotet war, sondern 528
offen über ihre Schultern hing. Die weißen Strähnen sahen wie ein Schleier aus, betonten die hochmütige Ruhe, die sich manchmal, wie eine Maske, über ihr Antlitz legte. Gelassen sah sie zu, wie ich todmüde über die Steine humpelte. Das Feuer leuchtete wie rote Pünktchen in ihren Augen. Als ich mich grüßend verneigte, ließ sie ein ungeduldiges Zungenschnalzen hören.
»Spät!« brummte sie mürrisch. »Dôshitano? – Warum?«
»Gommenasai – es tut mir leid«, stieß ich hervor. »Bin gefallen. Mein Knie blutet. Da!«
Ich zeigte ihr mein zerrissenes Hosenbein. Kimiko betrachtete die Wunde im Feuerschein, umfaßte mein Kniegelenk, bewegte es behutsam hin und her.
»Nicht schlimm. Nur waschen und verbinden. O-Cha?« setzte sie hinzu.
Sie fragte, ob ich Tee wollte.
»Hai. Domo arrigato – ja, vielen Dank.«
Mit steifen Beinen ließ ich mich an der Feuerstelle nieder. Die Wärme schlug mir ins Gesicht. Die Glut brannte in einem kleinen Eisenrost, und ich hielt meine erstarrten Hände darüber. Wasser dampfte in einem kleinen, gußeisernen Kessel.
Kimiko öffnete eine Teedose, häufte die richtige Menge grünen Teepulvers in ein winziges Sieb und hielt es über zwei Keramikbecher. Sie goß kochendes Wasser auf das Pulver, brachte es mit einer Bambusquaste zum Schäumen und reichte mir den Becher, den sie als ersten gefüllt hatte. Ich nahm ihn mit beiden Händen, wie es sich gehörte, führte ihn an die Lippen und nippte vorsichtig an dem heißen Getränk. Der erste Schluck verbrannte mir fast die Zunge, während sich das Wärmegefühl durch meinen ganzen Körper verbreitete und mir vor Wohlbehagen fast die Tränen kamen.
»Oishii? – Gut?« fragte Kimiko in zufriedenem Ton.
Sie schlürfte ihren Tee, gelassen wie eine Bäuerin nach der Arbeit, und blickte mich über den Rand hinweg an. Auf einmal lächelte sie.
»Hunger?«
Ohne meine Antwort abzuwarten, drehte sie sich leicht in den Hüften, brachte hinter sich eine flache, in buntes Papier eingewickelte O-Benfó-Schachtel zum Vorschein.
Das Wasser lief mir im Mund zusammen. Ich dankte, wickelte hastig die Schachtel aus dem Papier und nahm den Deckel ab. Die Schachtel, in kleine Fächer aufgeteilt, enthielt Reis, Seetang, saure Pflaumen, getrocknete Fischhäppchen und ein Röllchen süßer Eierkuchen. Eine winzige Plastikflasche mit Sojasoße, Holzstäbchen in einer Papierhülle und ein Mini-Zahnstocher gehörten dazu. Ich zog die zusammengeklebten Stäbchen aus der Papierhülle und riß sie auseinander.
»Itadakimasu – ich bediene mich«, murmelte ich höflich, bevor ich das Essen in mich hineinschlang. Inzwischen spülte Kimiko die Becher mit Wasser aus und trocknete sie mit einem Tuch. Ihr Gesicht trug wieder ihren schlichten, fast 529
einfältigen Ausdruck. Ein warmer Schimmer leuchtete in ihren Augen, und ihr Lächeln drückte Zuneigung aus. Unwillkürlich lächelte ich zurück. Ich vertraute ihr. Mit ihrer seltsamen Klarsicht schien Kimiko meine Gedanken zu spüren. Sie nickte mir zu.
»Du – viele Fragen. Alle nicht wichtig. Wichtig nur, was du fühlst.«
Sie blickte mich freundlich an, den Kopf in ihrer typischen Haltung zur Seite geneigt. Gleichzeitig aber, und trotz ihres Lächelns, spürte ich, wie mich das geheimnisvolle Feld ihrer Kraft fast körperlich berührte. Ich verzog das Gesicht.
»Ich weiß nicht, was ich fühle. Und auch nicht, warum ich hier bin.«
Sie blinzelte, verschlagen wie eine alte Marktfrau.
»Du hast eine Verabredung, ne?«
Ich faltete das Papier zusammen und stopfte es in die leere Schachtel. Sie machte sich lustig über mich, und ich war ihr völlig ausgeliefert. Mein Japanisch war so miserabel, daß sie sich ihre Wortspiele ersparen konnte. Sie merkte sofort, was los war, setzte sich bequemer zurecht und gab ihr heiseres Kichern von sich.
»Zornig? Warum?«
Ich lächelte unwillkürlich.
»Nein, nicht zornig.«
»Müde?«
Ich nickte.
»Ja, sehr.«
»Angst?«
»Ein bißchen.«
Sie fuhr fort, mich zu betrachten.
»Angst – nicht nötig. Du bist stark – sehr stark.
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